Entwicklungssprünge im Globalen Süden: Fehler einfach überspringen
Westliche Industrieländer haben nicht nur energiepolitisch viel verbockt. Was der Globale Süden besser macht.
Der Globale Norden baut heute Solar- und Windenergie aus, doch vorher schaufelte er seine Kohlegruben leer. Länder des Globalen Südens überspringen das fossile Zeitalter teilweise. Leapfrogging nennt sich dieses Phänomen. Es bezeichnet, dass ineffiziente, umweltschädliche und kostspielige Entwicklungen ausgelassen werden. Drei Beispiele für Entwicklungssprünge dieser Art.
Energiewende: Erneuerbare Mininetzwerke statt Kohlekolosse
Das Problem: Viele der westlichen Industrieländer haben im 20. Jahrhundert, als ihre Wirtschaft stark wuchs, die falschen Entscheidungen im Hinblick auf ihre Energieversorgung getroffen. Sie setzten auf vermeintlich günstige fossile Energieträger, nämlich Kohle, Öl und Gas. Heute stecken wir in einer Klimakrise, die maßgeblich durch diese Entscheidungen verursacht wurde.
Der Bedarf: Wenn in den Ländern des Globalen Südens die Wirtschaft weiter wächst, bedeutet das auch eine steigende Energienachfrage. In einigen Ländern sind momentan noch weniger als die Hälfte aller Haushalte an das öffentliche Stromnetz angeschlossen. Die Versorgung dieser Haushalte mit zentralen, großen Kraftwerken ist mit viel Aufwand verbunden, weil zum Teil weite Distanzen überbrückt werden müssen. Eines der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung ist es aber, allen Menschen „Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie“ zu ermöglichen.
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Die Alternative: Kleine Stromnetze für erneuerbare Energien, sogenannte Mini-Grids, können mit wenig Aufwand lokal aufgebaut werden und gezielt einzelne Orte mit Strom versorgen, die bisher nicht an ein Stromnetz angeschlossen sind. Diese lokalen Projekte profitieren enorm davon, dass Photovoltaik-Anlagen, Wasserkraftwerke und Windräder nicht nur immer effizienter werden, sondern auch deutlich günstiger hergestellt werden als früher und damit mehr Menschen zur Verfügung stehen.
Mit mindestens 21.500 dieser Mini-Grid-Lösungen wurden 2021 etwa 48 Millionen Menschen mit Strom versorgt, berichtet die Weltbank. Die meisten installierten Anlagen gab es 2021 in Afghanistan. Durch seine Gebirgslage erzeugt Afghanistan bereits heute 75 Prozent des gesamten Stroms erneuerbar durch Wasserkraft. Gerade Menschen in ländlicheren Gebieten profitieren davon aber kaum. Die Wasserkraftwerke speisen ihren Strom in das nationale Stromnetz ein, mit dem viele Menschen im ländlichen Raum nicht verbunden sind.
Mini-Grids können diesen Menschen günstig grüne Energie zur Verfügung stellen. Sie müssen ihre Energie nicht mit Dieselgeneratoren erzeugen und können stattdessen saubere Solarenergie nutzen.
Kommunikation: Smarte Phones statt lange Leitungen
Das Problem: Unser Planet ist durchzogen von Telefonkabeln. Sobald eine schnellere Art der Datenübertragung entdeckt wurde, verbuddelten die Telefonkonzerne im Globalen Norden neue Leitungen in der Erde oder hängten sie als Oberleitung von Mast zu Mast durchs Land. Festnetzverbindungen waren lange Zeit sinnvoll. Allerdings werden für solche Leitungen nicht nur Ressourcen für die Kabel benötigt, sondern es wird auch in die Landschaft eingegriffen. Das gilt ganz besonders in Gebieten mit wenig Einwohner*innen.
Der Bedarf: Die Frage, ob man Zugriff auf ein Netz für Telefon und Internet hat, ist lange nicht mehr nur eine Kommunikationsfrage. Geld überweisen, Kredite aufnehmen, Versicherungen abschließen – viele Alltagsfragen funktionieren besonders in Flächenländern nur oder besser via Telefon und Computer.
Die Alternative: Auf dem afrikanischen Kontinent und vielen anderen Teilen des globalen Südens wurde der Ausbau des Festnetzes quasi übersprungen. In Kenia beispielsweise besaßen laut einer Studie der International Telecommunication Union im Jahr 2000 unter 2 Prozent der Haushalte einen Festnetzzugang. Der technische Aufwand, Festnetzkabel landesweit auszubauen, war für Kenia damals einfach zu hoch. Gleichzeitig gab es zu wenig zahlungsfähige Kunden, um die anfallenden Investitionskosten abzudecken. Für die Verlegung von Telefonkabeln hätten große Mengen an Kupfer oder Aluminium und Isoliermaterial verbaut werden müssen. Die Kabel hätten über weite Strecken hinweg unter- oder oberirdisch in dem flächenmäßig sehr großen Land Unmengen an Ressourcen verbraucht.
Günstiger und ressourcenschonender sind Mobilfunktechnologien. Während im Jahr 2000 noch kaum Mobilfunkanschlüsse für Kenia dokumentiert sind, lag die Abdeckung pro 100 Einwohner*innen 2018 bei ungefähr 95 Prozent. Nigeria hat mit 200 Millionen Einwohner*innen etwa 173 Millionen Handyverträge. In Mali gibt es sogar mehr Handys oder Smartphones als Menschen.
Heute haben Menschen in Afrika südlich der Sahara deutlich häufiger ein mobiles Bankkonto als der Rest der Welt. Auch der Zugang zu digitalen Bildungsangeboten half gerade während der Pandemie vielen Kindern, von zu Hause aus weiter zu lernen.
Landwirtschaft: Mehr Ernte ohne Höfesterben
Das Problem: In vielen Ländern Europas bedeutete die Steigerung von Effizienz in der Landwirtschaft das Ende kleinbäuerlicher Strukturen. Mit dem Ziel, auf gleicher Ackerfläche mehr Ernte einzufahren, wurde die Landwirtschaft technisierter und durch mehr Spritzmittel, synthetische Dünger, Monokulturen und Massentierhaltung auch umweltschädlicher. Die Zahl der Betriebe ging immer weiter zurück, dafür wurden sie immer größer. Geht mehr Produktivität auch ohne dass Kleinbäuer*innen aufgeben?
Der Bedarf: In vielen afrikanischen Ländern ist mehr Ertrag pro Fläche weiterhin aus guten Gründen nötig. Teilweise gibt es nicht genug Nahrung für die wachsende Bevölkerung, Lebensmittel müssen deshalb importiert werden, was die Preise für die lokalen Käufer*innen weiter erhöht. Dabei zeigen neue Berechnungen, dass mit einer intensiveren Bewirtschaftung der bestehenden Felder nicht nur alle Menschen auf dem afrikanischen Kontinent ernährt werden können, sondern sogar Getreide exportiert werden könnte.
Die Alternative: Ein Beispiel für kleinbäuerliche Zusammenschlüsse für mehr Erträge ist die Organisation Babban Gona, übersetzt „große Farm“, die 2012 in Nigeria gegründet wurde. Die Idee ist, dass Kleinbäuer*innen sich zu Vertrauensgruppen zusammenschließen, beraten werden und gemeinsam in Qualitäts-Saatgut investieren.
Für eine intensive Nutzung der Felder spielt Saatgut eine wichtige Rolle. Bislang behalten viele afrikanische Bäuer*innen einen Teil der geernteten Samen, um sie in der nächsten Saison auszusäen. So müssen sie kein Saatgut kaufen und bleiben unabhängig von Agrarkonzernen. Aber mit den selbst geernteten Samen erzielen sie geringere Erträge als mit verbessertem Saatgut, zum Beispiel sogenannten Hybridsorten, die durch Kreuzung von Pflanzen mit unterschiedlichen Eigenschaften entstehen. Solches Saatgut lässt sich zwar nicht jedes Jahr neu aussähen, steigert aber die Ernten.
Die Organisation Babban Gona kann den Bäuer*innen das Saatgut günstig anbieten, weil sie große Mengen einkauft. Und sie verkauft ihre Ernte zum bestmöglichen Preis. So konnten die Bäuer*innen ihre Erträge bereits mehr als verdoppeln und dennoch verschiedene Betriebsgrößen erhalten.
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