Entschädigung für Holocaustüberlebende: Weil die Züge ihn nie losließen
Der Amsterdamer Salo Muller erreichte, dass der niederländische Eisenbahnkonzern Deportationsopfer entschädigt. Nun wendet er sich an die Deutsche Bahn.
I n den letzten Julitagen dieses Jahres geht im Bundeskanzleramt in Berlin per Kurier ein Brief ein. Der Amsterdamer Anwalt Dr. Axel Hagedorn wendet sich darin an die „sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel“. Er berichtet ihr vom Beschluss der niederländischen Eisenbahngesellschaft aus dem vorigen Jahr, „500 Holocaustüberlebenden und Tausenden direkten Nachkommen eine finanzielle Vergütung zukommen zu lassen“. Bei den Überlebenden, heißt es dort, handele es sich um Juden, Roma und Sinti, die erst ins Durchgangslager Westerbork und von dort in die Vernichtungslager Osteuropas deportiert worden seien.
Darunter befanden sich auch die Eltern von Hagedorns Mandanten Salo Muller, in dessen Auftrag er das Schreiben verfasst hat. Die Mutter und der Vater von Salo Muller wurden 1943 in Auschwitz ermordet. Ein Dreivierteljahrhundert später, so kann die Kanzlerin erfahren, war der Sohn „federführend“ beteiligt an den Verhandlungen mit den Nederlandse Spoorwegen. In Anbetracht dessen, dass das Eisenbahnunternehmen – das damals schon unter gleichem Namen operierte – Millionen mit dem Transport niederländischer Juden verdient habe, hielte der Mandant „es an der Zeit, dass auch die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verantwortung für dieses Unrecht nachkommt“.
Der Mandant Salo Muller wird im Februar 85 Jahre alt. Das bisschen glückliche Kindheit, das die Deutschen ihm ließen, verbrachte er im Amsterdamer Quartier Rivierenbuurt, wo damals viele jüdische Familien lebten. Als er fünf Jahre alt war, wurden seine Eltern bei einer Razzia festgenommen und deportiert. Der Junge konnte von der Sammelstelle aus, wie zahlreiche andere Kinder, über eine geheime Route durch den jüdischen Kindergarten in Sicherheit gebracht werden. Im Gedränge sah er seine Eltern aus der Entfernung zum letzten Mal. Sie winkten und warfen ihm Küsse zu, doch man ließ ihn nicht mehr zu ihnen.
Danach führte ihn eine Odyssee in acht verschiedene Unterschlüpfe quer durch den Norden des Landes. Jahrelange quälte ihn Ungewissheit über das Schicksal seiner Eltern, er hatte weder Spielzeug noch Freunde oder Vertraute. Wo er auch war, er musste sich unauffällig verhalten und versteckte sich bei Gefahr in einem Loch im Dielenboden oder im Hühnerstall.
Salo Muller
Als eine Tante ihn nach der Befreiung abholte, sprach er nur noch Friesisch. Das Niederländische hatte er verlernt, seinen Geburtstag und selbst den Namen vergessen: Aus Salo Muller war in den Jahren im Versteck Japje Mulder geworden, ein schwer traumatisierter Junge, kränklich, ängstlich, stotternd.
Als die Niederlande Salo Muller kennenlernen, ist all das kein Thema. Der junge Physiotherapeut wird in den 1960er Jahren zu einer Art Glücksbringer des legendären Teams von Ajax Amsterdam, das bald in ganz Europa die Sterne vom Himmel kickt. Mullers Markenzeichen: Koffer in der Hand, Buddy-Holly-Brille, Handtuch um die Schultern. Er revolutioniert, nein eigentlich erfindet er sein Fach, das sich bis dahin vornehmlich auf das Verabreichen von Schmerzmitteln beschränkte. Zudem wird er zum Freund der Spieler und Vertrauten der Trainer, kümmert sich um Ernährung, Freizeitgestaltung auf Reisen und Kommunikation in Fremdsprachen: ein Physiotherapeut als soziale Schnittstelle im Teamgefüge.
Über die Abgründe seiner Kindheit spricht Salo Muller in dieser Umgebung nicht. Was die Zugfahrten zu Auswärtsspielen in ihm auslösen, behält er für sich. Für seine Kollegen sind Züge ein komfortables Verkehrsmittel, in denen man herumlaufen und sich einen Kaffee holen kann. Er dagegen muss an die Viehwaggons denken, mit denen seine Eltern Lena und Louis und 107.000 andere niederländische Juden in die Vernichtungslager gebracht wurden.
In seinen Kriegserinnerungen – der Titel lautet übersetzt: „Bis heute Abend, und sei lieb!“, die letzten Worte, die er von seiner Mutter hörte, als sie ihn am Morgen ihrer Deportation in den Kindergarten brachte – wird er später von dieser einen Frage berichten, die ihn nicht loslässt: „Hatten sie noch die Kraft an mich zu denken, ihren einzigen Sohn?“ Als Schüler hat er ihnen versprochen, er werde irgendwann Gerechtigkeit für sie erreichen.
Die 14 Jahre, die Salo Muller beim Fußballklub Ajax verbracht hat, dessen Stadion einst in der Nähe des jüdischen Viertels lag und der darum bis heute ein jüdisches Image hat, sind symptomatisch dafür, wie die Niederlande mit ihren Überlebenden umgehen. Wer aus den Lagern zurückkehrt, stößt auf stille Scham und schweigsames Desinteresse, weitgehend ohne jede Empathie. Einmal bittet der junge fysio darum, an Jom Kippur nicht arbeiten zu müssen, genau wie seine nicht sonderlich frommen Eltern das taten. Prompt droht man ihm mit Entlassung, wenn er nicht in den Zug stiege – zu einem Europacup-Spiel, das ausgerechnet in Nürnberg stattfand.
Immer wieder geht ihm in den Jahrzehnten danach die Eisenbahn durch den Kopf. Nachdem Ajax Anfang der 1970er sein mickriges Gehalt nicht erhöhen wollte und ihn stattdessen brüsk vor die Tür setzte, gründet er eine erfolgreiche Physiotherapeutenpraxis mit zahlreichen prominenten Kunden. Doch im Hinterkopf stellt er Überlegungen zu den Deportationen an: Pro Person berechnete die niederländische Staatsbahn den deutschen Besatzern 5 Gulden, später 7 Gulden und 50 Cent. Umgerechnet 3 Millionen Euro verdiente sie damit. Immer deutlicher wird ihm: Dieses Geld muss zurückgezahlt werden. Aber wie?
Erst 2015, als Salo Muller schon lange als Schoahüberlebender Vorträge hält und Bücher publiziert, bringt ein Anstoß von außen die Sache in Bewegung. Er liest in der Zeitung von der Entscheidung der französischen Eisenbahnbahngesellschaft SNCF, überlebenden Juden und ihren Nachkommen in den USA 60 Millionen Dollar auszuzahlen. „Wenn das in Frankreich geht, warum dann nicht auch in den Niederlanden?“, denkt er sich. In einem Brief an die Direktion der Nederlandse Spoorwegen erzählt er seine Geschichte. Die Antwort von der PR-Abteilung ist ernüchternd. Bedauern bekommt er reichlich, aber von Entschädigung kann keine Rede sein.
Für ihn gibt es kein „Nein“
In dieser Zeit lernen die Niederlande Salo Muller erneut kennen. In einer ganz anderen Rolle, doch mit „der gleichen Arbeitsweise wie bei Ajax“, schreibt das NRC Handelsblad. „Sanft, wenn es möglich ist, drängend und drückend, wenn nötig.“ Zu drängen und drücken gibt es einiges, und der charmante und allseits beliebte Salo Muller lässt nun den Pitbull von der Leine. Als solchen beschreibt er sich gerne selbst. Er verbeißt sich in Sachen, für die er eintritt. Und er gibt niemals auf. „Ein ‚Nein‘ bedeutet für mich: ‚vielleicht‘, und ‚vielleicht‘ heißt ‚Ja‘“, erklärt er einmal in einem Gespräch.
Es gelingt ihm, das bekannte TV-Nachrichtenmagazin „Nieuwsuur“ auf das Thema aufmerksam zu machen. Nach der Sendung signalisiert die niederländische Eisenbahngesellschaft erstmals Bereitschaft zu einem Treffen. Muller greift zu einer List: Unternehmenschef Roger van Boxtel war früher ein hoher Funktionär bei Ajax. Er ruft also im Klub an, sagt, er habe van Boxtels Mobilnummer verloren, bekommt sie und hat ihn direkt an der Strippe. Am Ende werden Salo Muller und seine Frau nach Utrecht in die Direktion eingeladen. Einmal, zweimal; doch individuelle Entschädigungen lehnt die niederländische Bahngesellschaft weiter ab. Ein Denkmal für die deportierten Juden vor dem Bahnhof von Utrecht und Geld für Erinnerungsprojekte seien genug, heißt es.
Salo Muller geht aufs Ganze. Er nimmt Kontakt auf mit Liesbeth Zegveld, einer bekannten Anwältin. Zum halben Tarif will sie ihm zur Seite stehen und eine Klage vorbereiten. Er bittet Freunde um finanzielle Unterstützung. Doch Ende 2018 lenken die Spoorwegen ein. „Durch deine Ausdauer ist es gelungen!“, gratuliert ihm Bahnchef van Boxtel. In allen Medien wird Muller als Held gefeiert. Wenn er heute auf diesen Moment zurückblickt, fasst er ihn in seinem typischen, knappen Stil so zusammen: „Ich war sehr zufrieden. Es hat mich zwar drei Jahre gekostet, doch Ende gut, alles gut.“
Nur: Die Geschichte endet hier nicht. Zum einen, weil er den weiteren Lauf der Ereignisse genau im Blick und den Finger am Puls behält. In diesem Herbst erscheint in den Niederlanden sein Buch „Das Gefecht mit den Nederlandse Spoorwegen“, das den „einsamen Kampf eines Holocaustüberlebenden“, so der Untertitel, dokumentiert. Beschrieben wird, wie Muller und seine Anwältin mit der Kommission verhandeln, die über die Anträge entscheidet. Sie üben Druck aus, was die Höhe der Entschädigung betrifft, und dass diese steuerfrei sein sollen. „Es blieb ein schwieriger Kampf“, heißt es an einer Stelle.
Schließlich willigen die Nederlandse Spoorwegen im Sommer 2019 ein, an etwa 6.000 Personen insgesamt bis zu 50 Millionen Euro zu zahlen: jeweils 15.000 Euro an Überlebende, 7.500 an ihre Ehepartner, 5.000 an die Kinder. Offiziell redet man noch immer lieber von einem „Entgegenkommen“, auch wenn das Unternehmen schon 2005 sein Bedauern für seine Rolle während der Judenverfolgung ausgedrückt hat. Salo Muller wird ein Jahr später im Stadion von Ajax Amsterdam mit einer königlichen Auszeichnung geehrt und zum Offizier im Orden von Oranje-Nassau erklärt.
Es gibt noch einen Punkt, weshalb Salo Muller sich nicht zurücklehnen will. „Als es mit den Nederlandse Spoorwegen geklappt hatte, sagte ich zu Frau Zegveld: und jetzt die DB“, erinnert er sich. Seine Überlegung: „Die niederländischen Züge fuhren bis Nieuweschans. Dort, an der Grenze, traten die Deutschen in Aktion und fuhren die Züge bis in die Lager. Also ist es logisch, dass sie auch Entschuldigungen aussprechen und ein Entgegenkommen bezahlen.“
Anfang 2020 betreten Salo Muller und Liesbeth Zegveld eine andere Kanzlei in Amsterdam. Dort ist Axel Hagedorn niedergelassen, ein renommierter deutscher Anwalt, der mit Zegveld gut bekannt ist. Sie hat ihn gefragt, ob er sich der Sache annehmen wolle. Hagedorn las sich die Unterlagen durch und beschloss: Er will.
„Als ich 1994 in die Niederlande kam, war das Verhältnis noch sehr belastet, und Deutschen wurde oft Misstrauen und Abneigung entgegengebracht“, erinnert er sich. „Dass ich jetzt als deutscher Anwalt in den Niederlanden von einem jüdischen Holocaustopfer, das durch die Nazis seine Eltern verlor, gefragt werde, ihn gegen die Bundesrepublik Deutschland zu vertreten – das bewegt mich! Das ist ein enormer Vertrauensbeweis und keine Selbstverständlichkeit.“ Hagedorn, 1954 geboren, setzte sich seit seiner Jugend mit dem „Dritten Reich“ und der Judenverfolgung auseinander – was zu „schwersten Konflikten“ mit den Eltern führte.
Brief an die Kanzlerin und die Bahn
Gemeinsam setzen Hagedorn und Muller das Schreiben nach Berlin auf. Neben dem Bundeskanzleramt empfangen auch Verkehrs- und Finanzministerium, Bundeseisenbahnvermögen, die DB AG sowie DB Netz AG ein Exemplar. Darin heißt es, die Bundesrepublik habe eine „zumindest moralische Verpflichtung, den damaligen Opfern entgegenzukommen“. Die Verfasser verweisen auf das von der Reichsbahn übernommene Schienennetz, das bis heute in Benutzung ist, und die Tatsache, dass „die abtransportierten Juden größtenteils die Transportkosten selbst bezahlen mussten“.
Dass ihr Unterfangen kein leichtes ist, daran hat Hagedorn keinen Zweifel. Vorhersehbar ist, dass die Bahn sich darauf berufen wird, nicht in der direkten Rechtsnachfolge der Reichsbahn zu stehen. Dennoch hält er die Forderung für gut untermauert: „Zivilrechtlich handelt es sich bei den Transporten um unerlaubte Handlungen, aus denen mindestens ein immaterieller Schaden entstanden ist. In den Niederlande hat die Bahn das anerkannt. Man muss ihnen deutlich machen, dass es hier nicht nur um Salo Muller geht, sondern um Tausende von Menschen, die namentlich bekannt und Opfer der Reichsbahn geworden sind. Und sie sind nie kompensiert worden.“
Der Sommer verstreicht ohne Antwort aus Berlin. Im September dann, kurz nachdem Muller in Amsterdam ausgezeichnet wird, kommen zwei Schreiben in der Kanzlei an: eines von der Bahn, eines vom Bundesfinanzministerium. Die Worte klingen bekannt: Sie sollen den Spagat halten zwischen Mitgefühl und einer deutlichen Absage an individuelle Reparationen. „Sehr enttäuschend“, findet Hagedorn, „weil man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sich beide Parteien sehr einfach dieser Angelegenheit entledigen wollen.“
Gemeinsam mit seinem Mandanten will der Anwalt nun erst mal die Lage evaluieren. Eine Reaktion werde es auf jeden Fall geben, beteuert er. „Ganz offensichtlich meint man bei der Bundesregierung und der Deutschen Bahn, dass man so damit wegkommt. Doch die Bahn hat vom Unrecht erheblich profitiert und will dies nun nicht wahrhaben. Unbegreiflich, dass sie dem guten Vorbild der Niederlande hier nicht folgen.“ Und dann sagt er noch etwas, das vertraut klingt: „Salo Muller wird sich jedenfalls nicht damit zufrieden geben.“
Bahn sollte sich ein Vorbild nehmen
Offensichtlich ist die Bahn geübt darin, entsprechenden Forderungen auszuweichen und sie abzustreiten. Doch ist die Konstellation nun anders als vor ein paar Jahren. Salo Muller lässt per Mail wissen, dass die Sache mit den Nederlandse Spoorwegen „eine Art Vorbild“ für den jetzigen Fall sei. Außerdem fühle er sich nicht wie 84, und überhaupt könne er nicht stillsitzen. „Ich bin immer beschäftigt. Entweder mit der Deutschen Bahn oder ich schreibe mal wieder ein Buch. Ich habe gerade erst meinem Verleger einen Thriller geschickt.“
Bei seiner Ehrung im Ajax-Stadion kurz vor dem jüdischen Neujahrsfest bestätigt Muller dieses Bild. Im dunkelblauen Dreiteiler kommt er aus dem Spielertunnel der Johan-Cruijff-Arena. Sein Blick hinter der charakteristischen, schwarz umrandeten Brille ist entschlossen, die Bewegungen sind auch mit Mitte 80 noch geschmeidig. In der Linken hält er einen Mundschutz. Auf der letzten Stufe bleibt er kurz stehen und blickt sich aufmerksam um. Wenig später wird sein Verleger in seiner Ansprache sagen: „Anfangs glaubte niemand an Salo Muller. Jeder sagte, es ist aussichtslos. Er musste es ganz alleine tun. Gut, er hatte Unterstützung, aber ohne sein energisches Auftreten hätten wir heute nicht dieses Resultat.“
Es wird mehr solcher energischer Einsätze brauchen, um die Bahn überhaupt an den Gesprächstisch zu bekommen. Doch dass Salo Muller die Reserven dafür hat, steht außer Frage. Im vorletzten Winter, kurz nachdem die niederländische Bahn eingelenkt hat, empfängt er zu einem Gespräch in seiner Wohnung, am südlichen Rand von Amsterdam. Ein elegant gekleideter Herr, ein liebevoller Opa, wie die Zeichnungen der Enkel in seinem Arbeitszimmer vermuten lassen. Und ein Mensch, der zu 100 Prozent meint, was er sagt. „Wenn du mein Freund bist, springe ich für dich durch diese Glasscheibe“, weist er auf das Fenster. Man hat keinen Zweifel daran, dass es ihm ernst ist. So ernst, wie er einst seinen Job bei Ajax Amsterdam nahm. „Hands on“, beschreibt er seinen Ansatz im Nachhinein. Jede Menge Herzblut und Zuwendung.
Die Aufgabe, die nun vor ihm liegt, erscheint wie gemacht für einen letzten Verweis auf den selbst erklärten Pitbull Salo Muller, der sich nun also in der Sache DB festbeißen wird. Doch gilt es, dieses Bild nicht überzustrapazieren. Zumindest nicht, ohne ihm den richtigen Kontext zur Seite zu stellen. Im Gespräch mit der niederländischen Zeitung Trouw sagt er im Sommer diesen Satz: „Ich habe schon so oft darüber gesprochen, aber hier sitze ich nun, ein Mann von 84, der doch wieder mit Tränen in den Augen erzählt, dass er seinen Vater und seine Mutter noch immer vermisst.“
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