Entführte Mädchen in Nigeria: Über Geiseln spricht man nicht
Hunderte in Chibok entführte Schulmädchen sind noch immer in der Gewalt von Boko Haram. Der Politik sind sie inzwischen egal.
Heute sind immer noch 195 der ursprünglich 276 Mädchen, die die islamistischen Rebellen von Boko Haram in der Nacht des 14. April 2014 verschleppten, als sie die Oberschule von Chibok stürmten, die Wächter töteten, das Lagerhaus dem Erdboden gleichmachten und die Schlafsäle anzündeten, in der Gewalt der Aufständischen.
Seitdem sind 19 der Eltern der Entführten verstorben. Eine noch größere Anzahl kämpft gegen stressbedingte lebensbedrohliche Krankheiten, alle sind psychisch am Ende.
2014 hieß der Präsident Nigerias noch Goodluck Jonathan. Er bezweifelte zunächst, dass eine so gigantische Geiselnahme überhaupt stattgefunden habe, und witterte einen Versuch der Opposition, ihn im Vorlauf zu seiner erhofften Wiederwahl 2015 zu diskreditieren. Hätte Jonathan den Ernst der Lage sofort erkannt, wären die meisten Mädchen gerettet worden, als sie noch nicht von Boko Haram über die Landesgrenzen verschleppt worden waren. Erst nach zwei Wochen, als Journalisten in Chibok die wenigen Mädchen aufspürten, die rechtzeitig fliehen konnten, und die Geschichte des Überfalls rekonstruierten, gab Jonathan seine Leugnungshaltung auf. Aber da war es schon zu spät.
Die Protestgruppe BringBackOurGirls (BBOG), die am zentralen Unity Fountain der nigerianischen Hauptstadt Abuja Mahnwachen hielt und von der Polizei immer wieder verjagt wurde, war für Jonathan eine Plage, aber für seinen Widersacher Buhari ein willkommener Verbündeter. Nachdem Buhari 2015 die Wahlen gewonnen und sein Amt als Präsident angetreten hatte, empfing er die Protestierenden sogar an seinem Amtssitz.
Polizei über BringBackOurGirls
Aber als BBOG ihre Aktionen nicht einstellte, weil die Mädchen ja immer noch verschwunden waren, war Buhari zunehmend irritiert. Im Januar 2016 erklärte er sich „verärgert“ und sagte einer Delegation der Protestgruppe, er habe „keine glaubwürdigen Informationen“ über das Schicksal der Mädchen. Als BBOG wieder zu seiner Villa kam, ließ er sie von Polizisten fernhalten. Als sie dann wieder eine Mahnwache am Unity Fountain abhielt, wurde sie von 100 Polizisten verjagt.
„Was ihr da macht, gerät außer Kontrolle“, sagte bei dieser Aktion Polizeioffizier Abiodun Alamatu. Abujas Polizeisprecher Anjuguri Manzah sprach von „wahllosen Aktionen in einer unordentlichen und zuweilen aufsässigen Manier, die unangemessene Spannungen und Sorge unter gesetzestreuen Bürgern verursachen und legitime Geschäftsaktivitäten behindern“. Es war klar: Der Regierung Buhari waren Fragen nach dem Schicksal der Chibok-Mädchen ab jetzt ungelegen.
Es gab seitdem eine einzige gute Nachricht. Nigerias Geheimdienst erreichte vor einem guten halben Jahr mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) und der Schweizer Regierung den Austausch von 21 Chibok-Geiseln gegen inhaftierte Boko-Haram-Kommandanten. Mehr nicht. Viele andere Boko-Haram-Geiseln sind gerettet worden, aber nicht diese, die zum Symbol des Boko-Haram-Kriegs geworden sind.
Sieg über Boko Haram wird regelmäßig bekräftigt
Die bittere Wahrheit ist, dass für Buharis Krieg die Rettung der Chibok-Mädchen nie zentral gewesen ist. Generalstabschef Tukur Buratai erklärte Boko Haram zwar bereits im Februar 2016 für besiegt, und seitdem wird das regelmäßig bekräftigt. Sieg über Boko Haram heißt in den Augen des Militärs aber einfach, dass die Aufständischen an die Ränder der nordostnigerianischen Provinz Borno gedrängt sind und den großen Sambisa-Wald an der Grenze zu Kamerun nicht mehr beherrschen. Das ist die militärische Definition der Niederlage von Boko Haram.
Die Entführten zu finden ist dagegen hoffnungslos. Grace Alele-Williams, Nigerias erste Universitätsrektorin, drückte das am diesjährigen Jahrestag am klarsten aus. „Die Geschichte der Chibok-Mädchen ist zu einem Spiel geworden“, sagte sie. „Heute interessieren wir uns für andere Dinge.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen