piwik no script img

Entfremdung nach Hegel und MarxGilt auch für Automechaniker

Die Beziehung von Menschen zur Welt und zu ihrem Selbst ist nach wie vor von der Arbeit bestimmt. So sieht es die Philosophin Rahel Jaeggi.

So wie sich Arbeitsprozesse technologisch verändern, so wandeln sich auch Ansprüche an die Arbeit Foto: imago/Westend61

Die jährlich stattfindende, vom Frankfurter Institut für Sozialforschung organisierte Vortagsreihe „Frankfurter Positionen“ ist in diesem Jahr dem Thema „Selbstbeobachtungen“ gewidmet. Das Thema „Selbst“ hängt sozusagen am diskursiven Schwungrad. Man könnte fast von einer Renaissance des „Selbst“ in ganz unterschiedliche Formen reden.

Es gibt darunter kindische wie die Mode der „Selfies“ und des Fotografierens in buchstäblich allen Lebenslagen, aber auch gefährliche wie die „Selbstoptimierung“ mittels Drogen.

Den dritten Vortrag der Reihe bestritt am Mittwochabend die in Berlin lehrende Philosophin Rahel Jaeggi. Sie ging einem Thema nach, mit dem sie sich bereits in ihrer Dissertation (2002) beschäftigt hatte – dem der „Entfremdung“.

Der Begriff „Entfremdung“ stammt von Hegel, der ursprünglich damit „das Gefühl des Unglücks und der Ärmlichkeit des Tuns“ fasste, aber auch „die Arbeit nach einem fremden Willen“.

Pluralität von Entfremdungserfahrungen

In dieser Form übernahm der junge Marx den Begriff und untersuchte ihn zentral, vor allem in seinen frühen Schriften. In seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ in den späteren Jahren taucht der Begriff gelegentlich auch auf, wird aber normativ – insbesondere geschichtsphilosophisch-spekulativ – so aufgeladen und überladen, dass er für eine aktuelle kritische Gesellschaftstheorie nicht mehr anschlussfähig ist. Neomarxisten aus dem Kreis der jugoslawischen Praxisgruppe versuchten deshalb, den Begriff von Traditionsbeständen zu entlasten.

Jaeggi sieht Entfremdung als Verhältnis zur subjektiven, zur objektiven und zur sozialen Welt

Auch Rahel Jaeggi bezog sich in ihrem Vortrag über die Selbstentfremdung der Menschen in der Arbeit und durch die Arbeit auf einen gleichsam abgerüsteten Begriff, mit dem sich empirisch und analytisch arbeiten lässt. Um einige Einsichten von Hegel und Marx kommt man aber auch gegenwärtig nicht herum.

Durch Arbeit ist die Beziehung von Menschen zur Welt und zu ihrem Selbst nach wie vor maßgeblich bestimmt, und zwar als Entfremdung von der Welt wie vom Selbst. Freilich darf man diese Entfremdung nicht mehr anthropologisch oder essentialistisch denken, wie die Philosophen sagen, sondern man muss den Entfremdungsprozess historisieren zu einer „Pluralität von Entfremdungserfahrungen“, wie Jaeggi darlegte, die dem historischem Wandel unterworfen sind.

Auch das Selbst, auf das sich die Erfahrung der Entfremdung bezieht, ist kein immer schon Gegebenes oder ominöses Wesen „des“ Menschen, sondern ein Selbst, das sich etwa im Arbeitsprozess und durch die ganze Lebenspraxis formt und verändert. Rahel Jaeggi sieht Entfremdung in drei Dimensionen als Verhältnis zur subjektiven, zur objektiven und zur sozialen Welt.

Gestaltungs- und Verantwortungsspielräume

Und so wie sich die Arbeitsprozesse technologisch verändern, so wandeln sich auch Ansprüche an die Arbeit, und zwar nicht nur bei anspruchsvollen Tätigkeiten. Ein Hausmeister oder ein Automechaniker fühlt sich in seiner Arbeit und von seinem Arbeitsethos genauso entfremdet, wenn der Arbeitsprozess durch den technologischen Wandel entkernt und versimpelt wird, wie ein Hochschulprofessor, wenn ihn der akademische Betrieb zum Vollzugsorgan absurder bildungspolitischer „Reformen“ herabstuft.

Der „verzweifelte Begehr nach Identifikation“ (Judith Butler) mit sich selbst und seiner Arbeit ist weder an soziale Hierarchien noch an Einkommen gekoppelt. Kritik an der Entfremdung kann und darf sich nicht an nostalgischen Vorstellungen von der Rückkehr zur Ganzheitlichkeit oder zur Aufhebung von Arbeitsteilung orientieren, sondern muss danach fragen, wie Gestaltungs- und Verantwortungsspielräume im Interesse der Arbeitenden genutzt und ermüdende, entmündigende, fragmentierende, entleerende und verblödende Tätigkeiten überflüssig gemacht werden können. Arbeit, so Hegel, soll die „Teilhabe am allgemeinen gesellschaftlichen Vermögen“ ermöglichen.

Und das gilt auch für Arbeitslose oder prekär Beschäftigte, die ihre soziale Lage als Entfremdung und Exklusion von solcher Teilhabe erfahren. Das zahlreich erschienene, zum größten Teil junge Frankfurter Publikum dankte der Vortragenden mit starkem Beifall.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • @;))

     

    Alles richtig! & "Mir ist mies.Theo" - (Quintessenz by Hans Eisler &

    Ernst Blochs Lieblingsbonmot;) ~>

    Adorno hat ja recht - but -

    W.B. - Gab folgendes zu bedenken:

    "Obgleich die Welt ja, sozusagen

    Manchmal etwas mangelhaft

    Wird sie doch in den nächsten Tagen

    Vermutlich noch nicht abgeschafft!"

     

    kurz - Tief Luft holen - und -

    Pfeifend durch die Straßen gehen!

    (Normal ja!;)

  • Rahel Jaeggi , Professorin für praktische Philosophie an der Humboldt Universität , will sich offenbar mit Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" nicht abfinden . Nein , sagt sie , auch in der Welt wie sie ("praktisch") i s t , kann doch jede/r ein positives Selbst (-Bild , -Gefühl , -Bewußtsein) von sich , seinem Leben und seiner Arbeit aufbauen/haben/konstruieren . Also jede Kassiererin in einem Supermarkt , jede Garderobenfrau wie auch jeder Manager einer Waffenfabrik , die Saudi-Arabien , Katar und den IS mit ihren Produkten beliefert .

    Wie nett doch , tolerant , menschenfreundlich eine "praktische" Philosophie sein kann ! Und so System affirmativ auch , apologetisch(?) .

  • ;)) Das alles ist dem Rheinländer nicht fremd!

     

    "Wie geht's? Gut? Hauptsache!"

    Hanns Dieter Hüsch &

    De Kölsch - "Unne selbst?"

     

    (ps - klar - nem normativen

    Pälzer blieb das immer fremd!;)

    Normal.

    • @Lowandorder:

      De deskirptive Pälzer halt 's do mit:

      -Un?

      -Ej jo, muss halt.

      • @Bombus lapidarius:

        Das hat der Kalle Marx aber was länger in seinen Bart gemurmelt -

        kurz - "unne selbst?"

        Ok - deswegen versteht ihn eher keiner - Dafür beruft sich allewelt auf ihn -

        Affirmativ apologetisch ablehnend… usw usf - je nach "Waffenfarbe"!

        Normal!

    • @Lowandorder:

      Jouu , philosophisch-kölsch gesehen : ein L&O-"Selfie" , eine Blödelei . Oder : nur albern bis kindisch ?

      • @APOKALYPTIKER:

        suchs - dir raus - selbst!"

         

        (HDH - is natürlich vom Niederrhein!;)

        pps - & "…unne selbst?…" - klar -

        Weist ins Zentrum der Entfremdung!

        Aber das weiß einer wie Apo ja eh - :)

        Normal.

        (ppps Selfie¿ - bin ne Immi! &

        us Türkisch Sektor - Iiihrrrenfeld -

        Nich us Bilderstöckchen!;))