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Entfernungen und MigrationAbschied ohne Verabschiedung

Meine zwei Zuhause liegen etwas 8.400 Kilometer entfernt voneinander. Mit Corona kam zu der Reise noch eine weitere Hürde hinzu.

„Wenn andere zu Opa nach Friesland fuhren, reisten wir zur Familie um die halbe Welt“ Foto: Leio McLaren/Unsplash

N eulich habe ich etwas über die Welt gelernt, was ich so noch nicht wusste. Beziehungsweise habe ich etwas verstanden. Und zwar, wie viel Ferne in Entfernung steckt. Die kurze Antwort ist: zu viel. Die längere Antwort geht so:

Es gibt zwei Orte, an denen ich Zuhause bin. Einer liegt etwa 8.400 Kilometer von mir entfernt. Das entsprach mein Leben lang einer Reise von 12 bis 15 Stunden und meist habe ich davon drei bis vier Stunden verschlafen. Die vollständige Rechnung bezieht die Zeit für die Bewilligung eines Visums mit ein, je nach Kontostand und Dringlichkeit kommen zur Reisezeit noch etwa vier bis 15 Werktage Antragsbearbeitungszeit hinzu. Machte in einer Welt vor 2020 bestenfalls viereinhalb Tage von einem Ort zum anderen. Das war schon lang für unsere Welt, aber oft kurz genug, um sich von jemandem verabschieden zu können.

Das regelmäßige Überbrücken großer Entfernungen war für viele selbstverständlich. Die größere Hürde oft nicht die Anzahl der Kilometer, sondern die damit verbundenen Kosten. Und ich meine nicht nur uns, die wir zur Konferenz nach Vancouver oder ins Yoga-Retreat nach Bali reisten. Ich meine auch uns, die wir mehrere Orte Zuhause nennen, die Kinder und Enkelkinder der Migration. Nähe trotz Entfernung war normal.

Wenn andere zu Opa nach Friesland fuhren, reisten wir zur Familie um die halbe Welt. Manche von uns saßen mit Eltern und Geschwistern in einem alten Opel und fuhren stundenlang über Autobahnen, andere waren drei Stunden vor Abflug an Terminal C, um mit einem kleinen Flugzeug nach Amsterdam-Schiphol zu fliegen und anschließend in einen dickbäuchigen Airbus Richtung Osten (fern) umzusteigen. Vielleicht hatten wir Dinge in unserem Gepäck gemeinsam: Omega-3-Kapseln für Großmutter, Multivitamin-Brausetabletten für den Cousin, weiche Lederslipper vom Discounter für die geschwollenen Füße der Tante und deutsche Schokolade für alle. Vor allem aber die Sicherheit, Entfernung regelmäßig überbrücken zu können.

2020 hat auch diese Selbstverständlichkeit aufgelöst. Aus einem „Wir sehen uns im März“ wurde ein „vielleicht im Herbst“ und schließlich ein „hoffentlich nächstes Jahr“. Aus einem Idealfall von viereinhalb Tagen macht die Quarantänepflicht 18,5 und das ist zu lang, um rechtzeitig die Hand eines Sterbenden zu halten. Vielleicht ist das diese Zerrissenheit, von der sie immer sprechen, die real immer eher einer Dehnübung glich? Was tun, ohne die Selbstverständlichkeit von immer?

Wir brauchen Zeit, wie alle. Wir wollen denen ins Gesicht lachen, die jetzt auf eine Urlaubsreise verzichten müssen. Oder wir treten in unsere Sehnsucht wie in eine Pfütze und gehen dann mit nassen Socken spazieren. Wir lernen, dass es nichts bringt, das Leiden der anderen zu verachten. Wir lernen Abschied ohne Verabschiedung. Wir leiden im Orchester, das niemand dirigiert. Und wir essen dabei deutsche Schokolade.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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1 Kommentar

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  • Schöner Beitrag, sogar richtig poetisch: "Wir treten in unsere Sehnsucht wie in eine Pfütze". Da kann ich gut mitfühlen. Ja, nach Hause kommen ist irgendwie ein menschliches Grundbedürfnis und es ist leider vielen Menschen in diesen Tagen verwehrt, nicht nur Flüchtlingen, sondern auch Menschen, die sich eigentlich zu den Privilegierten zählen dürfen.

    Das Wort "Heimat" kommt zwar nicht vor, aber zwischen den Zeilen steht es natürlich trotzdem. Ist halt vielleicht nicht mehr ganz politisch korrekt, dieses H-Wort. Ausser vielleicht als kleiner Trost für die Daheimgebliebenen: "Heimat ist da, wo ich WLAN hab'."