England vor EM-Halbfinale: Der große Boost kommt
England geht mit Optimismus ins Halbfinale gegen Schweden (ARD, 21 Uhr). Es soll auch das Titeltrauma, das die Männer verfolgt, besiegt werden.
Zehn Minuten brauchte es nur, da waren die 2.000 Restkarten, die noch in den offenen Verkauf kamen, vergeben. Die Bramall Lane in Sheffield, das älteste Stadion der Welt, in dem noch Profifußball gespielt wird, ist mit seinen 28.900 Plätzen am Dienstag natürlich ausverkauft. Angesichts der Euphorie in England hätte man vor dem Halbfinale gegen Schweden wohl jedes Stadion gefüllt. Aber in Sheffield dürfte der seit der Männer-EM 2021 hierzulande ritualisierte Fangesang „Football’s coming home“ eine ganz besondere Magie entfalten. Am zentralen Londoner Trafalgar Square richten die Stadtbehörden erstmals ein Public Viewing für ein Spiel der Fußballerinnen aus.
Englands Mittelfeldspielerin Fran Kirby berichtet von „erstaunlichen Videos“, auf denen Menschen zu sehen gewesen seien, die total ausrasteten, als die Lionesses ein Tor gegen Spanien erzielten. Ein seltsames Gefühl sei es auch, dass die Menschen ihnen Beifall klatschen, wenn sie in diesen Tagen außerhalb des EM-Quartiers einen Spaziergang machen.
Mit der Begeisterung wächst freilich der Druck auf das Gastgeberteam. Der Daily Telegraph titelte dieser Tage: „Englands Frauen könnten den Fußball in diesem Land diese Woche für immer verändern.“ Gemeint war nicht nur die Etablierung des Fußballs der Frauen auf den vorderen Sportseiten, Teil des Mainstreams zu werden, sondern auch die Überwindung eines Traumas, das bislang vor allem männlich gelesen wurde: endlich wieder nach 1966 einen Titel für England zu gewinnen.
Gewiss nicht angsteinflößend
Über den Gegner, den Fifa-Weltranglistenzweiten Schweden, der diesem Traum zuallererst im Wege steht, sprechen derzeit vornehmlich Trainerin Sarina Wiegman und ihre Spielerinnen. Deren Auftritt im Viertelfinale war gewiss nicht angsteinflößend. Allerdings hat Spanien Schwächen im englischen Spiel offengelegt, die sich andere nun zunutze machen könnten.
Der englischen Leichtigkeit in der Vorrunde, als man nach ein paar Problemen gegen Österreich ein norwegisches Team ohne geschulte Abwehr und die nordirischen Außenseiterinnen auseinandernahm, folgte ein lange Zeit bleischwerer Auftritt gegen Spanien. Besonders auf der linken Abwehrseite konnte einem die eigentlich gelernte Stürmerin Rachel Daly leidtun, die von der quirligen Spanierin Athenea del Castillo mehrmals aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Vermutlich wird Wiegman, die nicht sonderlich experimentierfreudig ist, wieder mit der gleichen Startelf beginnen.
Klarheit und Detailliebe
Diskutiert wird in Englands Öffentlichkeit auch, ob denn nicht Rekordtorschützin Ellen White besser auf der Bank aufgehoben wäre, weil Alessia Russo trotz ihrer Teileinsätze bereits drei Tore und ein Assist vorweisen kann und stets einen dynamischeren und gefährlicheren Eindruck hinterließ. Doch gerade unter der Drucksituation eines Halbfinales wird Wiegman eher auf erfahrene Kräfte setzen und die Versprechen der Zukunft wie Russo (23) und Toone (22) als Joker in der Hinterhand behalten. Bei Wiegman weiß man, woran man ist. Und das schätzen die Spielerinnen. Immer wieder loben sie die Klarheit ihrer Trainerin in der Kommunikation und ihre Detailliebe.
Nach dem Spiel gegen Spanien stellte Wiegman klar, dass die immense Drucksituation, in die ihr Team gegen Spanien schlitterte, sie nicht überrascht habe. „Wir denken uns vor einem Spiel alle Szenarien durch“, sagte sie. Man habe immer einen Plan B. Und so wäre klar gewesen, wie man auf die Situation reagieren wolle. Dass diese Ersatzpläne in so einer Extremsituation wie in Brighton schon einmal erfolgreich zum Einsatz kamen, stimmte Wiegman sogleich optimistisch. „Das gibt hoffentlich einen großen Boost.“
Krisenhilfe für die Gesellschaft
Am Sonntag fand dann Fran Kirby bei ihrem Presseauftritt noch einen weiteren Grund, weshalb ihr Team ins Halbfinale ziehen sollte. Die Menschen in England seien durch die gestiegenen Lebenshaltungskosten infolge des Ukrainekriegs mit großen Problemen konfrontiert. Man wolle den Menschen eine Fluchtmöglichkeit aus dieser Krise für 90 Minuten geben. „So sehr wir gewinnen wollen, wollen wir den Leuten auch ein Lächeln ins Gesicht zaubern.“
Den Frauenfußball revolutionieren, die Männerfußball-Misere seit 1966 endlich beenden, Krisenhilfe für die englische Gesellschaft leisten. Es ist nicht gerade wenig, was den Lionesses aufgebürdet wird und was sie sich auch selbst aufladen.
Ach, und da wäre ja noch etwas. Bei den letzten drei großen Turnieren – WM 2015, EM 2017 und WM 2019 – standen die englischen Fußballerinnen jeweils im Halbfinale und verloren. An eine erneute Niederlage mag man bei alldem wirklich nicht denken.
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