Engels geheimer Schutzengel

SS-Mann Friedrich Engel steht ab heute wegen Kriegsverbrechen vor dem Hamburger Landgericht. In Genua gab er 1944 den Befehl zur Hinrichtung von 59 Partisanen. Doch seine Akten verschwanden

von PETER MÜLLER und ANDREAS SPEIT

Es ist der erste große NS-Prozess in Hamburg und wird wohl zugleich der Letzte sein. Der wegen 246-fachen Mordes schon 1999 vom Turiner Militärgericht verurteilte nationalsozialistische Kriegsverbrecher Friedrich Wilhelm Siegfried Engel muss sich ab heute vor dem Hamburger Landgericht wegen Mordes in 59 Fällen verantworten. Im Gegensatz zu anderen Mordangeklagten befindet er sich jedoch nicht in Untersuchungshaft, sondern der heute 93-jährige ehemalige SS-Oberstleutnant kann den Frühling in seinem Gärtchen in Lokstedt genießen. Während das Militärgericht den „Schlächter von Genua“ wegen drei Massakern an der italienischen Zivilbevölkerung verurteilte, braucht sich Engel in Hamburg nur wegen der so genanten „Turchino-Aktion“ zu verantworten.

Mai 1944: Die Invasion der Alliierten in Frankreich steht bevor, Hamburg ist im Verlauf der „Operation Gomorra“ bombardiert worden, in Russland ist die Wehrmacht auf dem Rückmarsch und im faschistischen Italien bedrängen Partisanen die deutschen Einheiten. Am 5. Mai 1944 sterben fünf Soldaten in einem Wehrmachts-Kino in Genua durch eine Bombe der Partisanen. Als lokaler Chef von Gestapo und SS befiehlt Engel eine „Vergeltungsmaßnahme“. Willkürlich suchen zwei Abteilungen der Kriegsmarine 59 Zivilisten aus, die wegen anderer „Straftaten“ im Gefängnis sitzen, verschleppen sie in den Wald am Paso del Turchino und richten sie hin. „Ich möchte betonen“, erinnert sich Engel heute in Interviews, „dass sie Märtyrer waren. Sie weinten nicht, sie schrien nicht, sie flehten nicht um Gnade.“

Ähnliches hatte sich bereits einen Monat zuvor ereignet: Engel gibt den Befehl für eine „Bandenaktion“ gegen Partisanen im Kloster Benedicta, wobei die ihm unterstellte Einheit 147 Zivilisten erschießt. Bei einer anderen von ihm befohlenen „Vergeltungsmaßnahme“ in dem Dorf Cravasco im März 1945 richten die Einheiten 18 Geiseln hin. In Italien heisst Engel deswegen „Henker von Genua“ oder „Todesengel“.

Bei den Nazis blieb Engels „Partisanenbekämpfung“ nicht ohne Würdigung. Aufgrund der „in jeder Hinsicht guten Leistung in Genua als Führer eines sicherheitspolizeilichen Kommandos“ empfehlen die Vorgesetzten „mit Wirkung vom 30. Januar 1945“ Engel zum SS-Sturmbandführer zu befördern. Engel gibt zwar heute zu, „mitverantwortlich“ für die „Turchino-Aktion“ gewesen zu sein, aber nicht „mitschuldig“. „Es tut mir Leid,“ betonte er gegenüber der Presse, „aber ich habe nichts zu bereuen. Ich habe einen Befehl befolgt.“

Nach dem Krieg war Engel weder der italienischen noch der deutschen Justiz ein Unbekannter. Nach 1945 setzten amerikanische Einheiten den gesuchten NS-Kriegsverbrecher fest und boten den italienischen Behörden die Auslieferung an. Eine Anforderung kam aus Rom jedoch nicht. Als Engel 1947 aus der US-Gefangenschaft nach Hamburg fliehen konnte, versteckte er sich nicht vor der deutschen Justiz. In den 60er Jahren wurde er in diversen NS-Verfahren vernommen, erklärt das Bundesarchiv, das die Akten der Ludwigsburger-Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen aufbereitet. Engel hat damals gegen ehemalige Angehörige des Reichssicherheitshauptamts ausgesagt – als Zeuge.

Vielleicht lag es an diesen Aussagen, weshalb 1969 das Verfahren gegen den auf der Fahndungsliste der Vereinten Nationen stehenden Engel „provisorisch“ eingestellt wurde. Der Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft, Rüdiger Bagger, hat zumindest keine wirkliche Erklärung, warum Engel jahrzehntelang unbehelligt blieb. Nur: Weder die Akten seien auffindbar, noch könne sich der Sachbearbeiter erinnern.

Das lässt Raum für Vermutungen: In der heißen Phase des Kalten Krieges waren westliche Alliierte und Geheimdienste bemüht, auf die „Erfahrungen“ der NS-Täter im „Kampf gegen den Kommunismus“ zurückzugreifen. Etliche Gestapo- und SS-Männer machten nach 1945 in Geheimdiensten Karriere. Hatte Engel einen Schutzengel beim Bundesnachrichtendienst?

Erst als Reporter Engel 2000 in Hamburg aufspürten, geriet die Anklagebehörde unter Ermittlungsdruck. Doch inzwischen schützt das hohe Alter vor dem Knast.