Eltern von Kindern mit Behinderung: Hilferuf nach Unterstützung

In Hamburg und Schleswig-Holstein fehlen Mittel für die Betreuung von Kindern mit Behinderung. Also übernehmen die Eltern - und die können nicht mehr.

Die Sesamstraßen-Puppe Elin sitzt in ihrem Rollstuhl in einer Sesamstraßen-Kulisse.

In der Sesamstraße funktioniert Inklusion. In der echten Welt fehlt das Geld dafür Foto: Georg Wendt/dpa

NEUMÜNSTER taz | Die schwarz-grüne Regierung in Schleswig-Holstein hat eine Haushaltssperre verhängt – und die Wohlfahrtsverbände schlagen Alarm: Denn die Sperre betrifft so genannte freiwillige Leistungen, die oft an Vereine im sozialen Bereich gehen. Betroffen sind unter anderem Menschen mit Behinderung, deren Angehörige schon jetzt unter fehlenden Angeboten leiden.

„Wir hören jede Woche einen Hilfeschrei“, sagt Alexandra Arnold, Geschäftsführerin der Lebenshilfe SH. „Die Einrichtungen leiden unter Personalmangel, sie weisen Menschen mit starkem Unterstützungsbedarf teilweise zurück.“ Leidtragende seien die Eltern, berichtet Ilka Pfänder, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Körper- und Mehrfachbehinderten: „Weil es an allen Ecken und Enden an Unterstützung fehlt, haben Eltern wieder häufiger ihre Kinder zuhause und können teilweise nicht ihrer Berufstätigkeit nachgehen.“

In Hamburg ist die Lage ähnlich, berichtet Kerrin Stumpf vom Elternverein „Leben mit Behinderung Hamburg“: „Eltern gehen an ihre Grenze und darüber hinaus.“

Die heutige Generation von Eltern hätte jahrelang für Inklusion gekämpft: „Jetzt haben wir das Bundesteilhabegesetz, und die Eltern erwarten, dass nun die Normalität losgeht. Doch sie kommen in eine Welt, in der niemand auf ihre Kinder gewartet hat.“

Teams in der Abwärtsspirale

Das betreffe besonders Menschen mit komplexen Behinderungen: „Sie haben keine soziale Teilhabe“, heißt es in einem Brandbrief, den der Elternverein an die Sozialbehörde richtete. „Jungerwachsene finden nach der Schulzeit keine Beschäftigung und keinen Anschluss.“

Die Gründe seien vielfältig, sagt Alexandra Arnold: Gerade die kleinen Einrichtungen, die von Betroffenen, Politik und Gesellschaft gewünscht werden, hätten es besonders schwer. Im Flächenland Schleswig-Holstein fehle es oft an Personal, zudem seien die Krankenstände der Fachkräfte hoch.

Das führe bei den kleinen Teams „zu einer Abwärtsspirale“, die Einrichtungen wirtschaftlich in die Knie zwingt. Angesichts von Schichtdienst und Löhnen, die bestenfalls minimal steigen, weil sich Kassen und Verbände nicht auf neue Rahmenverträge einigen können, „denken viele Fachkräfte, den Mist muss ich mir nicht antun“, sagt Arnold.

Hinzu komme das fast undurchschaubare Förderrecht, mit dem Betroffene und Angehörige konfrontiert sind: „Die Schnittstellen sind unausgelotet, jede Behörde macht nur ihre Sache“, sagt Stumpf.

Ilka Pfänder, Geschäftsführerin des Hamburger Landesverbands der Körper- und Mehrfachbehinderten

„Manchmal denke ich, es geht zurück in die 1950er Jahre – wir müssen wieder in Großfamilien leben, damit das Kind mit Behinderung irgendwie versorgt wird“

Etwa im Fall eines jungen Mannes mit Downsyndrom, der aus dem Elternhaus in eine kleine Wohngruppe gezogen war. Tagsüber sollte er in einer Werkstatt arbeiten, nachmittags hilft jemand bei der Bewältigung des Alltags. „Das Problem war nur: Er kam nicht in der Werkstatt an, weil er einfach nicht aufstand“, berichtet Stumpf. Der junge Mann hätte morgens einen Pflegedienst gebraucht – „aber stattdessen waren die Eltern wieder dran“.

Ilka Pfänder bestätigt diese Erfahrung: „In der Politik herrscht die Meinung, es müsse nur ein Antrag gestellt werden, dann sei alles geregelt.“ Tatsächlich lehnen die Kostenträger vieles ab, Eltern müssten klagen.

Neues Personal aus dem Hut ziehen kann die Politik zwar nicht, aber es gebe einige Stellschrauben, sagen die Betroffenen-Vertreterinnen. So fehlen Daten und damit eine bedarfsgerechte Planung. „Dabei fallen junge Menschen mit Behinderung nicht vom Himmel, sie waren immerhin schon in Förderschulen“, sagt Stumpf, die sich für Hamburg mehr barrierefreie Wohnungen wünscht. Eine Bitte an die Politik ist auch eine kostenfreie Ausbildung zur Heilerziehungspflege – der Beruf ist wichtig in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.

Zur Lehre noch Geld mitzubringen, sei nicht mehr zeitgemäß. Ilka Pfänder wünscht sich Kurzzeitpflegeplätze, um Familien von Kindern mit Behinderung eine Auszeit zu bieten. Alexandra Arnold will Fachkräfte aus anderen Ländern schneller ins System zu bringen: „Viele haben eine Qualifikation, müssen aber erst durch ein schwieriges Anerkennungsverfahren laufen.“ Das Hauptproblem sei aber, dass das Sozialwesen seit Jahren auf Wirtschaftlichkeit getrimmt und „auf Kante genäht“ seien.

Brandbrief der Eltern

Auf den Brandbrief der Eltern in Hamburg gab es noch keine Antwort. „Wir sind aber im Gespräch“, sagt Stumpf. Im Hamburger Senat sei das Thema angekommen. „Und wir werden das ganze Jahr weiter Alarm schlagen, wenn es sein muss.“

In Schleswig-Holstein hat sich die Lage durch die verhängte Haushaltssperre um ein Vielfaches erschwert. Zum ersten Mal seit 2009 geht die Regierung diesen Schritt, den Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) mit Fehlbeträgen von 400 Millionen in diesem und 600 Millionen Euro im kommenden Jahr begründet.

Das Kabinett aus CDU und Grünen werde in den nächsten Wochen beraten, wie die Einnahmelücken geschlossen werden. Heinold, die seit 2012 in wechselnden Regierungen im Amt ist, nannte die Herausforderungen „so groß wie noch nie“.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband, dem auch Eltern- und Betroffenenverbände angehören, verlangt „vor allem Planungssicherheit“. So seien zwar Projekte auf den Weg gebracht worden, es gebe aber keine Bewilligungsbescheide mehr. Der Verband prüfe rechtliche Schritte, um Hilfs- und Beratungsangebote zu sichern.

Und falls es nicht klappt? Ilka Pfänder hat eine düstere Vision: „Manchmal denke ich, es geht zurück in die 1950er Jahre – wir müssen wieder in Großfamilien leben, damit das Kind mit Behinderung irgendwie versorgt wird.“

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