Reform der rechtlichen Betreuung: „Ohne Betreuer gehe ich unter“

Ein neues Gesetz soll die Rechte von Menschen stärken, die rechtlich betreut werden. Was ändert sich? Ein Betreuter und ein Betreuer berichten.

Zwei Hände öffnen einen Briefkasten und nehmen einen Brief heraus

Mit der Reform können den Betreuten Gerichtsschreiben wirksam zugestellt werden. Das birgt Gefahren Foto: Foto: ingimage/imago

BERLIN taz | Als Kind, erzählt Hanno Roth*, hatte er eine Hirnhautentzündung. Mit drastischen Folgen. „Im Krankenhaus habe ich meine Eltern nicht erkannt“, sagt Roth. Heute ist er 60 Jahre alt und wenn er lacht, blitzen silberne Kronen in seinem Mund. Roth hat seit der Hirnhautentzündung kognitive Beeinträchtigungen – deshalb kann er sich nur schwer konzentrieren. Immer wieder vermüllte er seine Wohnung und machte Schulden. In den 1990ern regen seine Eltern an, eine rechtliche Betreuung einzurichten.

Ein Gericht kann einen rechtlichen Betreuer bestellen, wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer Behinderung seine Angelegenheiten nicht mehr erledigen kann. Rechtliche Betreuung, das bedeutet nicht etwa Pflege oder Haushaltsführung, sondern im Namen des Betreuten Geld überweisen, Briefe öffnen, Operationen absegnen oder Mietverträge unterzeichnen. Also all das, was mit rechtlichen Fragen verbunden ist und was der Betreute nicht selbständig schafft.

In welchen Lebensbereichen Be­treue­r*in­nen Entscheidungen treffen dürfen, bestimmt ein Gericht. Geschätzte 1,25 Millionen Menschen haben eine rechtliche Betreuung. Das können Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sein, wie Roth, aber auch Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Demenz.

Bis 1992 galt das Entmündigungsgesetz. Betroffene wurden entmündigt, waren 'geschäftsunfähig’ oder nur 'beschränkt geschäftsfähig’. Erwachsene galten als so handlungs(un)fähig wie Kinder und waren vom Willen ihrer Vormünder abhängig. Das Betreuungsgesetz von 1992 stärkte die Rechte von Betroffenen. Betreute sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Leben nach „eigenen Wünschen und Vorstellungen“ gestalten können, so steht es seit 1992 im Gesetz. Beziehungsweise stand, denn nach 31 Jahren wurde es Zeit für die nächste Reform – sie gilt seit Anfang des Jahres. Und wieder geht es um mehr Selbstbestimmung für Betreute. Was ändert sich jetzt? Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte: „Im Mittelpunkt des neuen Betreuungsrechts stehen die Wünsche der Betroffenen. Und genau da gehören sie hin.“

„Mein Betreuer ist doch nicht der Weihnachtsmann, der Wünsche erfüllt“, sagt Roth. Zweimal pro Monat trifft er Kersten Boenicke in dessen Büro in Berlin. Boenicke – Brille, Hemd, Kinnbart – sitzt am PC, Roth auf einem Stuhl, die Hände über dem Bauch gefaltet. Auf Boenickes Bildschirm flackern Zahlen – Roths Ein- und Ausgaben. Roth bezieht nicht mehr als Bürgergeld. Betreuer Boenicke verwaltet seine Finanzen und kann, wenn Roth einen Vertrag abschließt, diesen widerrufen. Einwilligungsvorbehalt, nennt sich das. „Ohne Betreuer würde ich untergehen“, sagt Roth. Heute, Mitte Februar, holt er sich sein Geld für den Rest des Monats.

„Wir haben noch 200 Euro für den Monat“, sagt Boenicke.

„Wollen wir 150 Euro machen?“, sagt Roth. „Das reicht mir.“

„Wie hätten Sie es gerne?“

„150 in bar, bitte.“

Mit Boenicke als Betreuer ist Roth zufrieden. „Die Zusammenarbeit ist gut“, sagt er.

Roth hat aber auch schon schlechte Erfahrungen gemacht, sagt er. Ein ehemaliger Betreuer habe der Rentenkasse nicht mehr geantwortet und die Krankenkassenbeiträge nicht beglichen. Plötzlich hätte Roth Schulden und kein Einkommen mehr gehabt. Das Amtsgericht habe dann den Betreuer von seinen Aufgaben entbunden.

Buschmanns Reform soll die Rechte der Betreuten stärken. So hat der Gesetzgeber klargestellt, dass andere Hilfen Vorrang haben vor der rechtlichen Betreuung. Wenn etwa eine Schuldnerberatung oder ambulant betreutes Wohnen als Unterstützung reichen, sollte auf eine rechtliche Betreuung verzichtet werden – mit Zustimmung der Betroffenen. „Die Betreuungsbehörden müssen andere Hilfen vermitteln“, sagt die Juristin Dagmar Brosey von der TH Köln, die zur rechtlichen Betreuung forscht und beim Reformprozess in einer Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums mitwirkte. Es werde klargestellt, sagt sie, dass Be­treue­r*in­nen alle Angelegenheiten mit den Betreuten zu besprechen haben und dass sie die Wünsche der Betreuten zunächst feststellen und dann grundsätzlich berücksichtigen müssen.

Die Arbeit der Be­treue­r*in­nen unterliegt der Kontrolle des Betreuungsgerichts. Damit das besser funktioniert, wurden jetzt, so schreibt es das Bundesjustizministerium, „die Anforderungen an die vom Betreuer bei Gericht einzureichenden Berichte klarer formuliert“.

Mehr Papierkram für das gleiche Geld

Für Betreuer Boenicke bedeutet das vor allem eins: mehr Papierkram. „Eigentlich muss ich jetzt jedes Gespräch dokumentieren“, sagt Boenicke. Damit schaffe man zwar volle Transparenz, um die Arbeit der Be­treue­r*in­nen zu überprüfen. Aber dafür bleibe ihm weniger Zeit für den Betreuten selbst. Boenicke findet es gut, dass der Gesetzgeber die Rechte von Betreuten noch einmal stärkt. Aber er kritisiert, dass das zulasten der Be­treue­r*in­nen geht. Sie müssten jetzt mehr Arbeit leisten und neue Aufgaben wahrnehmen.

„Mein Berufsbild hat sich schlagartig verändert: Ich soll zusätzlich sozialpädagogisch tätig werden, und zwar dahingehend, dass ich meine Betreuten befähige, selbst ihre rechtlichen Angelegenheiten zu besorgen.“ Auch das sei zeitlich schwer zu stemmen – Boenicke betreut 30 Menschen und ist als Anwalt tätig. Andere Be­treue­r*in­nen sind für 50 oder 60 Betreute zuständig. Vergütet wird der Mehraufwand – Stand heute – nicht. Das bedeutet, dass die Be­treue­r*in­nen von heute auf morgen mehr Arbeit leisten müssen, aber dafür nicht mehr Geld bekommen und sich also auch nicht mehr Zeit für die Betreuten nehmen können.

Be­treue­r*in­nen erhalten Fallpauschalen, die sich an ganz unterschiedlichen Faktoren bemessen: zum Beispiel an ihrer Qualifikation und dem Aufwand der Betreuung. So können Be­treue­r*in­nen pro Fall und Monat zwischen 62 Euro und 486 Euro bekommen – davon sind dann aber auch alle Kosten zu begleichen, wie Fahrtkosten und Versicherungen. Zuletzt wurden die Pauschalen 2019 angehoben.

Hinzu kommt: Für sozialarbeiterische Tätigkeiten sind Be­treue­r*in­nen nicht notwendigerweise ausgebildet. Bisher oblag es den Betreuungsbehörden zu entscheiden, wer als Be­treue­r*in arbeiten durfte und wer nicht. Eine gesetzliche Regelung gab es nicht, erklärt Brosey. Nur Leitlinien, Vereinbarungen, Empfehlungen. „Das wurde unterschiedlich gehandhabt.“

Künftig müssen sich berufliche Be­treue­r*in­nen bei der Betreuungsbehörde registrieren und einen Sachkundenachweis erbringen. Das bedeutet, sie müssen nachweisen, dass sie sich etwa im Umgang mit Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen auskennen und fit im Sozialrecht sind.

Für die Betreuten bedeutet mehr Selbstbestimmung auch mehr Selbstverantwortung. Betreuer Boenicke warnt dabei vor einer Gefahr für Betreute: Seit Januar 2023 steht eine Betreuung der Prozessfähigkeit von Betreuten nicht mehr entgegen. Das bedeutet, Betreute können selbst und ohne Be­treue­r*in­nen Prozesse vor Gericht führen und gerichtliche Schreiben können ihnen wirksam zugestellt werden. Das war vor der Reform noch nicht so.

Viele Betreute würden gerichtliche Schreiben gar nicht oder nicht gleich öffnen, sagt Boenicke. Zwar sollen Be­treue­r*in­nen eine Abschrift eines gerichtlichen Schreibens erhalten, wenn sie „bekannt“ sind und ihr „Aufgabebereich betroffen“ ist. Wenn das Gericht jedoch nichts von der Betreuung erfährt, werden Be­treue­r*in­nen nicht informiert und Betreute stehen alleine da.

Ein Beispiel: Einem Betreuten wurde die Wohnung gekündigt, der Vermieter erhebt Räumungsklage, der Betreute öffnet die gerichtlichen Schreiben nicht. Der Vermieter erlangt einen wirksamen Räumungstitel, ohne dass Be­treue­r*in­nen davon etwas mitbekommen. Der Betreute verliert seine Wohnung. Auch Inkassounternehmen könnten so Titel gegen die Betreuten erwirken – an den Be­treue­r*in­nen vorbei.

Bessere Unterstützung für Ehrenamtliche

Nicht nur Profis wie Boenicke arbeiten als Betreuer*innen, es gibt auch Ehrenamtliche. „Man kann so grob sagen, dass die Hälfte der Betroffenen durch Ehrenamtliche betreut wird. Meistens sind das Angehörige oder Vertrauenspersonen“, sagt Brosey.

Die Ehrenamtlichen sollen zukünftig stärker an Betreuungsvereine gebunden werden. Zum Beispiel durch Vereinbarungen über Begleitung und Unterstützung. Für ehrenamtliche Betreuer*innen, die keine familiäre oder persönliche Beziehung zum Betreuten haben, ist das verpflichtend. Auch hier geht es also wieder um Qualitätssicherung. Mehr noch: „Mit der Reform wurde klargestellt, dass die Betreuungsvereine eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen und dementsprechend auch finanziell unterstützt werden müssen“, sagt Brosey.

Das lobt auch Sabina Künzel-Barben vom Betreuungsverein Neukölln. Hier arbeiten berufliche Betreuer*innen, aber der Verein unterstützt auch Ehrenamtliche und berät Interessierte. Um entsprechend der Reform mehr Aufgaben zu erfüllen, brauche man mehr Zeit, mehr Personal und mehr Geld, so Künzel-Barben. Aber die Finanzierung der Betreuungsvereine sei in Berlin noch nicht angepasst worden. Ein neues Gesetz zur Finanzierung muss noch durch die Ausschüsse des Abgeordnetenhauses – und die ruhten bis Mitte März wegen der Berlinwahl.

„Wir sind derzeit unterfinanziert – und das deutlich“, sagt Künzel-Barben. Auch in anderen Bundesländern hapere es noch, so fordern auch in Niedersachsen die Vereine mehr Geld. Aber grundsätzlich begrüßt Künzel-Barben die Reform.

Hanno Roth glaubt, dass er ein Leben lang eine Betreuung brauchen wird, aber schlecht findet er das nicht. Im Betreuungsbüro von Boenicke bekommt er seine 150 Euro für den Rest des Monats. Mit dem Geld will er nach Polen fahren und dort billig einkaufen. Bevor er geht, unterzeichnet er noch die Quittung über 150 Euro. Damit auch alles seine Richtigkeit hat.

*Name von der Redaktion geändert

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