piwik no script img

Eltern von Kindern mit BehinderungWas wird aus Nico?

Wenn behinderte Kinder erwachsen werden, sind ihre Eltern irgendwann zu alt, um sie noch zu betreuen. Das kann zum Problem werden.

Mühsamer Weg: Nico Schnittger wird von seinem Vater die Treppe hinuntergelassen Foto: Daniel Nide

Hamburg taz | Auf dem Foto oben sieht man Nico Schnittger, man sieht die Hände seines Vaters Arnold. Es ist ein Foto, das manches zeigt, manches muss man sich dazu denken, manches bleibt verborgen. Es zeigt, dass Nico Schnittger, der von Geburt an körperlich und geistig behindert ist, den Besuch des Fotografen aufregend und lustig fand. Ein großer Spaß. Es zeigt, dass er jemand ist, der gern Kontakt zu anderen aufnimmt.

Das Bild zeigt nicht, dass Arnold Schnittger 68 Jahre alt ist, es zeigt nicht, dass der Tag kommen wird, an dem er den Treppensteiger mit seinem Sohn nicht mehr wird ziehen können. Es zeigt ohnehin nur seine Hände und darin liegt etwas Symbolisches, ohne dass der Fotograf es darauf angelegt hätte: die Eltern von behinderten Kindern sind wenig sichtbar in unserer Gesellschaft.

Auch die Kinder werden mit zunehmendem Alter unsichtbarer, sie verschwinden aus den allgemeinen Schulen und finden sich wieder in Einrichtungen, die sie ihrem Selbstverständnis nach schützen und zugleich abschließen vom Rest der Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, die keinen Anstoß daran nimmt, diese Menschen meist nur im Transporter wahrzunehmen, der sie zu Orten bringt, die die anderen nie betreten.

Es gibt gute Gründe, zu finden, dass sich die Situation von Menschen mit Behinderung verbessert hat, deutlich sogar, sowohl gesetzlich als auch lebensweltlich. Mit dem frisch verabschiedeten Bundesteilhabegesetz sollen Menschen mit Behinderung freier darüber entscheiden können, wo sie leben. Medien sind in leichter Sprache zugänglich, Menschen mit Behinderung erscheinen im öffentlichen Leben in neuen Rollen, etwa als AkteurInnen im Theater.

Die Lebenserwartung behinderter Menschen wächst, auch ihre Zahl wird größer

Das ist das eine. Das andere ist der Alltag derjenigen, die pflegen und begleiten. Die sich aufreiben im Dschungel der Bürokratie, zwischen abgelehnten Kuren, abgelaufenen Behinderten-Parkausweisen, zwischen Windeln und der Zwiesprache mit dem Kind, die mal mühelos und mal mühsam ist. So wie mit jedem Kind, nur dass das eigene sein Leben lang auf Unterstützung angewiesen sein wird.

Es gibt ein hohes Maß an innerfamiliärer Solidarität in vielen Familien mit Kindern mit Behinderung. Man kann in Studien darüber nachlesen, es genügt aber auch, Familien wie die Schnittgers zu erleben. Aber diese Familien leben nicht auf Inseln, sie leben in einer Gesellschaft, von der man gerade nicht recht weiß, wohin sie geht.

Arnold Schnittger sagt, es sei ein Bauchgefühl, das ihn hindere, seinen Sohn in eine öffentliche Pflegeeinrichtung zu geben. Er sieht eine Abwärtsspirale kommen in der Güte der Häuser, nicht aus bösem Willen der Pflegekräfte, sondern aus ökonomischen Druck. Die Lebenserwartung behinderter Menschen wächst, auch ihre Zahl wird größer.

Wie sonderbar: Der medizinische Fortschritt, wenn man ihn so nennen möchte, sorgt dafür, dass ungeborene Kinder mit Behinderung aussortiert werden können. Wer mit Down-Syndrom im Mutterleib erkannt wird, hat wenig Chance, geboren zu werden.

Und zugleich sorgt diese Medizin dafür, dass immer mehr Kinder Geburten und Krankheiten überleben, die sie mit Behinderungen zurücklassen. Die Kosten des Bluttests, der das Down-Syndrom nachweist, übernimmt jetzt die Krankenkasse. Weil es sich lohnt. Und weil er nachgefragt ist.

Die Frage ist, ganz nüchtern gestellt, ob wir es lohnend finden, in das Leben von Menschen mit Behinderung zu investieren. Das könnte Geld sein, das andere gern für sich hätten. Gelder sind endlich und Verteilungskämpfe bringen selten das Bessere in den Menschen hervor.

Die Frage, ob es sich lohnt, ob es die bestmögliche Verwendung ist, stellen wir ständig, es ist ein normaler Vorgang, und ob uns etwas lohnend erscheint, muss nichts mit Volkswirtschaft zu tun haben. Und doch: Man kann nicht anders, als an Nazi-Deutschland zu denken, vor 80 Jahren, als die Frage radikalisiert gestellt wurde: Lohnt sich Leben mit Behinderung?

Verteilungskämpfe bringen nicht notwendigerweise das Bessere in uns hervor, aber sie müssen auch nicht das Schlechtere hervorbringen. Sie können im Bewusstsein unser aller Hinfälligkeit etwas ganz anderes wecken: ein Gefühl von Solidarität. Als Ausgangspunkt für ein Gespräch über das, was uns wichtig ist.

Mehr über Nico und die Probleme von älter werdenden Eltern mit behinderten Kindern lesen Sie in der taz am Wochenende oder hier.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • "Wie sonderbar: Der medizinische Fortschritt, wenn man ihn so nennen möchte, sorgt dafür, dass ungeborene Kinder mit Behinderung aussortiert werden können. Wer mit Down-Syndrom im Mutterleib erkannt wird, hat wenig Chance, geboren zu werden. "

    Ein zehn Wochen alter Fötus ist kein Kind und hat mangels Bewusstsein kein Interesse daran, geboren zu werden.

    Ich finde es interessant, dass die taz Ausdrücke wie "ungeborene Kinder" gebraucht, welche aus dem Vokabular christlicher Lebensschützer stammen, dies aber nur dann tut, wenn es darum geht, Stimmung gegen Pränataldiagmostik zu machen. Ansonsten wird bei jeder Gelegenheit für das Recht auf Abtreibung geworben, wobei es den Autoren niemals passieren würde, Föten mit Kindern zu verwechseln.

    • @Thomas Friedrich:

      Machen wir uns doch nichts vor: Ein 10 Wochen alter Fötus wächst zu einem Kind heran, wenn man nicht aktiv eingreift und abtreibt. Auch schlägt schon das Herz, es ist also nicht irgendein Zellklumpen. Behinderte Kinder dürfen übrigens bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden. Da sieht es mit der von ihnen angesprochenen Bewusstheit schon anders aus.

    • @Thomas Friedrich:

      Warum sollte man überhaupt Menschen (Föten) wegen einer Behinderung "aussortieren"?



      Weil durch die Formulierung, dass ein Mensch am Down-Syndrom (oder einer anderen Behinderung) „leidet", impliziert wird, dass dieses„Leid“ verhindert werden könnte bzw. müsste(!) - vor allem, wenn es doch schon vor der Geburt erkennbar ist?



      Menschen mit Behinderung leiden jedoch in erster Linie unter Benachteiligung, Ignoranz und mangelnder Wertschätzung und fehlender Unterstützung.

  • Wer Menschen mit Behinderung aussortiert und als nicht lebenswert erachtet,



    der wird auch vor anderen wehrlosen Menschen nicht haltmachen.

    • @Poseidon:

      Ähnliche Erfahrungen wurden in den Niederlanden bei der aktiven Sterbehilfe gemacht. Ich zitiere aus einer Rezension des Buches "Das ist doch kein Leben mehr" (van Loenen) bei socialnet.

      [...] Die Entwicklung in den Niederlanden wird von van Loenen kritisch gesehen. Die ursprüngliche Zielgruppe sei sukzessive erweitert worden; dadurch sei man auf eine schiefe Ebene geraten. Inzwischen würden auch leidende Menschen, die sich nicht mehr äußern können, chronisch seelisch Kranke, Menschen mit schweren Behinderungen und vor allem Neugeborene mit erheblichen Defekten teilweise in den Kreis derer einbezogen, deren Leben mit medikamentöser Hilfe beendet werden kann. An die Stelle der anfangs als ethische Begründung dienenden Selbstbestimmung des Patienten sei das – von individueller Willkür nicht freie – ärztliche Mitleid getreten. Allein die gesetzlich gegebene Möglichkeit, das Leben eines leidenden Menschen vorzeitig zu beenden, habe zu einem Bewusstseinswandel geführt, der das auf Lebenserhalt gerichtete Tun der Ärzte ebenso beeinträchtige wie die Bereitschaft der Menschen, die Belastungen durch schwer kranke oder behinderte Mitbürger hinzunehmen und mitzutragen. [...]

  • "Die Frage ist, ganz nüchtern gestellt, ob wir es lohnend finden, in das Leben von Menschen mit Behinderung zu investieren."



    Mit der UN Behindertenrechtskonvention (von Deutschland ratifiziert gilt also auch wenn nationale Gesetze hier und da noch fehlen) hat diese Frage geklärt: Auch Menschen mit Behinderung sind Menschen für die die unveräußerlichen Menschenrechte gelten. Eines davon ist die freie Wahl von Wohnort und Wohnform. Wenn Mensch entscheidet in der eigenen Wohnung oder einer WG leben zu wollen und kein Geld dafür hat muss Staat die dazu nötige Assistenz finanzieren wie auch bei einem nichtbehinderten Menschen der z.B. des längeren Arbeitslos ist und auch (noch) nicht zwangsweise in ein Heim das angeblich billiger ist gesteckt wird. In Deutschland gibts Vereine von Betroffenen die die Finanzierung von nötiger Hilfe zu Hause durchsetzten auch das "Persönliche Budget" (bei dem Betroffene oder ihre Vertrauten) ein Budget erhalten um die nötigen Assistenzkräfte einzustellen. Leider ist es aber in Deutschland so dass auch Grundrechte nicht garantiert sind sondern ausgerechnet Menschen mit schweren Behinderungen die ohnehin schon sehr viel mehr als Menschen ohne Behinderung organisieren müssen im Alltag auch noch Quartalsweise ihre Rechte sprich die ihnen zustehenden Leistungen mühsam einklagen müssen. Denn unsere gesetzlichen Krankenkassen werden ja angehalten "marktwirtschaftlich" zu arbeiten also Kosten zu minimieren und Gewinne zu steigern. Da hab ich auch schon erlebt wie auch langjährige Einzahler:innen die mit 50 chronisch erkrankten Post bekamen sie sollten doch lieber die Krankenkasse wechseln z.B. von der TK mit der Behauptung die AOK sei für ihr Krankheitsbild besser aufgestellt. Das ist nur ein Beispiel von vielen mit denen sich Betroffene alltäglich herumärgern müssen. Es betrifft uns alle denn a) bedeutet ein Angriff auf die Menschenwürde eines Einzelnen einen Angriff auf alle und b) weiß niemand obs ihn oder sie selbst mal betrifft.

  • Warum dreht der Artikel wieder am gesamtgesellschftlichem Aufgabenrad, obwohl klar ist, dass sich da kaum erwas und wenn dann nur langsamst ändern lässt? Schade, keine konkrete Idern. Es ändert ja auch nichts am Problem dass ein Onlel haben wird. Sein Sohn ist ein bisher glücklicher Mensch, ähnlich schwerbehindert wie Nico. Keine weiteren Kinder, Ehefrau vor 2 Jahren gestorben, er zwar als Exfeuerwehrmann topfit, aber schon jetzt ist absehbar, dass es kein Jahrzehnt mehr dauern wird, bis er die tägliche Pflege nicht mehr allein stemmen kann. Was dann? Er tindert zwar, aber potenzielle Partnerinnen wollen auch nicht zur Alterspflegkraft werden. Geld für einen Dauerhelfer ? - als Exfeuerwehrler war kein "Leistungsträger". Bleibt nur Heimverwahrung, denn wann und ob Pflegeassitenzroboter Kassenleistung werden weis keiner.ä, da es zwar bereits kolaborative Roboter in der Industrie und im Spielesektor passende Interfaces gibt, aber Zulassungsverfahren im medizinisch-pharmazeutischem Komplex unerträglich langwierig und unsagbar teuer sind.



    Meine Idee wäre hier, ein Betroffenzusammenschluss, der soetwas als ' Sport und Funkrempel' zum selbstzusammenstellen entwickelt.