Einschaltquote, Fernsehen und Internet: Suche Währung für zwei Welten
Je mehr gestreamt wird, desto weniger aussagekräftig ist die klassische Einschaltquote. Deswegen wird an neuen Erhebungsverfahren gearbeitet.
4,43 Millionen Zuschauer*innen sollen eingeschaltet haben bei den ersten beiden Folgen von „Oktoberfest 1900“. Die weiteren Folgen der ARD-Event-Miniserie sahen immerhin je dreieinhalb Millionen im Ersten Deutschen Fernsehen. Und in der ARD-Mediathek wurden die insgesamt sechs Folgen über den Kampf zweier Bierdynastien bisher rund zehn Millionen Mal abgerufen. Produzent Michael Souvignier jedenfalls freut sich bereits über den „enormen Erfolg“.
Allerdings wird es immer schwieriger mit dem Ermitteln der sogenannten „Einschaltquote“. Dieses Messsystem, dessen Anfänge in den 60er Jahren liegen und von jeher leicht unscharf, kommt in Zeiten der Online-Mediatheken an seine Grenzen. Der Onlinekonsum, darüber sind sich alle Experten einig, wird immer wichtiger. Publikum jeglichen Alters nutzt immer häufiger Internet-Angebote, um sich Filme oder Serien anzuschauen. Was kann uns die „Quote“ heute überhaupt noch sagen?
„Die Einschaltquote“ ist ein Messwert für Zuschauerbeteiligung, für dessen Erhebung seit 1988 die AGF – Arbeitsgemeinschaft Fernsehen verantwortlich ist. Sie ist ein Zusammenschluss der großen privaten und öffentlich-rechtlichen Sender. Als nämlich Mitte der 80er Jahre das Privatfernsehen in Deutschland startete, wollte es auf den Zuspruch durch das Publikum verweisen können. „Das ist wie eine Währung, auf die sich alle wichtigen Marktteilnehmer geeinigt haben“, sagt Helmut Thoma, Gründungsgeschäftsführer von RTL und Mitgründer der AGF.
Dazu gehören, besonders wichtig für das Privatfernsehen, auch die Werber. Heute erfreut sich die Einschaltquote großer Berühmtheit und alle Sender, ob privat oder öffentlich-rechtlich, verkünden sie gerne – jedenfalls, wenn sie besonders hoch gewesen ist.
Das Prinzip der 5.400 Boxen
Um die Quote für das lineare Fernsehen zu ermitteln, nutzt die AGF eine repräsentative Gruppe, ein sogenanntes Panel. Das sind 5.400 Haushalte mit insgesamt 11.000 Menschen, die für 75 Millionen Deutsche ab drei Jahren stehen sollen. Sobald die Teilnehmer*innen ein bestimmtes Programm schauen, müssen sie sich über eine Box an ihrem TV-Gerät anmelden.
So werden schließlich die Informationen gefiltert, anhand derer sich beispielsweise bestimmen lässt, wie viele Menschen ein Programm schauen, welches Geschlecht und welches Alter sie haben oder wie viel sie verdienen. Informationen also, die für Werbung und auch für die Programmgestaltung wichtig sind.
Die Quote ist allerdings nur ein Näherungswert, und sie gilt – wie jede Währung – auch nur so lange, wie alle Beteiligten sie akzeptieren. Michael Souvignier findet: „Um heute den tatsächlichen Publikumszuspruch zu bemessen, muss der Onlinekonsum immer auch miterfasst werden.“ Das sieht wohl die gesamte Branche so. Schon allein, damit Sender mit der werbetreibenden Industrie und deren Vermarktern Preise für TV-Spots vereinbaren können.
Quote? Häufig zu ungenau
Seit jeher gab es Unschärfen bei der Quote. Vor allem bei den kleineren Sendern. Der Medienwissenschaftler Christian Richter, der an der Uni Potsdam lehrt, sagt: „Der Großteil der Sender hat einen Marktanteil, der kaum über ein Prozent kommt. Dadurch kann es dort von Tag zu Tag und von Sendung zu Sendung zu erheblichen Schwankungen der Werte kommen.“
Wenn mal keine Person des Panels einen der Minisender einschaltet, dann liege die errechnete Sehbeteiligung bei null, auch wenn irgendwo in Deutschland tatsächlich Menschen zugesehen haben. Wenn hingegen eine Person zufällig einschalte, repräsentiere sie gleich mehr als 7.000 Menschen.
Richter, dessen Buch „Fernsehen – Netflix – Youtube – Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Diensten“ im Dezember erscheint, kritisiert zudem, dass nur gemessen wird, ob ein Programm eingeschaltet ist, nicht aber die Qualität des Konsums, also ob das Publikum möglicherweise nebenbei im Internet surft, kocht, bügelt oder schläft.
Aus Quote wird Reichweite
Von der Messung der Nutzerverhaltens auf Webseiten etwa ist man längst viel größere Feinheiten gewohnt. „Die Onlinewelt hat den Vorteil, dass genau festgestellt werden kann, wie viel Mal ein Inhalt abgerufen wurde“, sagt Thomas Laufersweiler, Leiter der ARD-Onlinekoordination. „Wir können aber nicht sagen, wie viele Menschen das waren, ob das einer oder mehrere waren, die geschaut haben – und wie alt sie beispielsweise sind.“ Die „perfekte Verbindung dieser zwei unterschiedlichen Währungen zu entwickeln“ hält Laufersweiler für eine schwierige Aufgabe.
Die AGF ist allerdings bereits dran. 2017 hat sie sich in AGF – Arbeitsgemeinschaft Videoforschung umbenannt und bastelt seitdem an der Messung einer aussagekräftigeren Quote. Das Marktforschungsinstitut Nielsen hat in ihrem Auftrag zwei Panels für die Onlinewelt gebildet: eins mit 15.000 Menschen für Desktop-Abrufe und ein Mobile-Panel mit 6.000 Personen.
Zusätzlich können die Abrufzahlen aus den Mediatheken und anderen Videoangeboten, die unter AGF-Messung stehen, genau beziffert werden. Die entsprechenden Daten für eine bestimmte Sendung werden 68 Tage lang erhoben. Diese Informationen werden schließlich mit den Messungen zu den Einschaltquoten im linearen Fernsehen zusammengeführt und Sendern sowie Agenturen zur Verfügung gestellt.
Diese sogenannte „konvergente Reichweite“ wird allerdings bisher nicht veröffentlicht, man scheint sich mit der Berechnung noch nicht sicher genug zu sein. „Ein endgültiges Modell wird es aller Voraussicht so schnell nicht geben“, sagt AGF-Geschäftsführerin Kerstin Niederauer-Kopf. „Es kommen ständig neue Anbieter und Endgeräte dazu. Deshalb wird der Konvergenzstandard kontinuierlich weiterentwickelt.“
Möglicherweise offenbart sich hier aber ein Problem für die Zukunft. Denn je komplexer die Erhebung, desto unwahrscheinlicher, dass alle Beteiligten sich auf die neue „Währung“ einigen. Die Berechnung von Reichweiten in den sozialen Medien, etwa bei Influencern, zeigt seit Jahren, dass es schwer ist, eine Einigung über Messverfahren herbeizuführen. Spaltung droht. Wer mit der Art, wie die „konvergente Quote“ errechnet wird, nicht zufrieden ist, könnte theoretisch einfach eine eigene Konkurrenzformel entwickeln.
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