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Eine polnische Mutter in BerlinDisziplin und Süßes

Essay von Karolina Wigura

Als polnische Mutter in Berlin habe ich viel über die Deutschen gelernt. Vor allem über Gemeinsamkeiten jenseits der Grenzen und Mentalitäten.

Die Nachbarin hängt süße Geschenke an die Tür, mit einem Zettel: „Bitte nur eine Schokolade pro Tag!“ Foto: Katja Gendikova

D ie „polnische Mutter“ ist ein Begriff, der die traditionelle Rolle der Frau in Polen als Beschützerin ihrer Kinder beschreibt: fürsorglich, geduldig und mit ganzem Herzen bei der Sache. Der Begriff wird sogar über die Grenzen hinweg verwendet. Meine israelischen Freundinnen sagen: „Sei nicht so eine polnische Mutter“, und meinen damit: „Sei keine Helikoptermutter.“

Ich selbst bin weit davon entfernt, eine überbehütende Mutter zu sein. Ich habe mein Berufsleben nie für meine Kinder geopfert, was nicht heißt, dass ich mich nicht um sie kümmere. Es ist jetzt 12 Jahre her, dass ich meine beiden Söhne zur Welt gebracht habe. Es war sowohl eine Zeit, in der ich mich sehr intensiv um die Kinder gekümmert habe, als auch die meiner größten beruflichen Erfolge. Ob es eine „Work-Life-Balance“ gibt, bezweifle ich – aber das hält mich nicht davon ab, eine Art Gleichgewicht zu suchen. Und da es schwierig ist, alles richtig zu machen, ­gehen meine Kinder oft ohne Mütze oder mit offener Jacke aus dem Haus, was sie aber nicht daran hindert, glücklich zu sein.

Auch wenn ich das Klischee der „polnischen Mutter“ nicht mag, bin ich sowohl Polin als auch Mutter. Deshalb ist es für mich sehr interessant, Deutsche – deutsche Mütter – zu treffen und zu erfahren, wie sie die Rolle der Frau und die Kindererziehung verstehen. Das Nachdenken über Fragen der Kindererziehung, über Elternrollen ist ein Schlüssel dafür, zu erkennen, was uns auf beiden Seiten der Oder und Neiße verbindet und was uns trennt.

Die besten Soziologen sind Fremde, sagte der Berliner Soziologe Georg Simmel. Ständiges Reisen, die Präsenz in verschiedenen kulturellen und geografischen Ordnungen, ein Lebensstil, der durch die Anzahl der Reisen etwas nomadisch ist – all das charakterisiert den Fremden aus dem berühmten gleichnamigen Aufsatz Simmels. Wenn das der Fall ist, spiele ich schon lange eine solche Fremden-Rolle.

Karolina Wigura

Karolina Wigura ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.

Seit 2021 lebe ich in Berlin, vorübergehend mit nur einem Sohn. Mit dem anderen lebt sein Vater in Warschau, also bauen wir beide sozusagen zwei Denkmäler der selbstständigen oder manchmal auch alleinerziehenden Elternschaft. Durch die ständigen Reisen nach Berlin und Warschau fühlen wir uns als Bür­ge­r*in­nen zweier Städte, und diese Erfahrungen bilden unsere Identität als Familie.

Meine erste Erfahrung, wenn es um deutsche Kinder und ihre Erziehung ging, war … Stille. Polnische Kinder, so hat man den Eindruck, sind sehr laut, und sie sind überall. In den Kindergärten werden sie ausgiebig betreut, sodass sie, wenn sie in die Schule kommen, noch nicht so weit sind, ihr eigenes Verhalten und ihre Gefühle zu regulieren. Die Erfahrung der deutschen Einschulung war für mich in dieser Hinsicht äußerst lehrreich. All die Sechsjährigen, die entschlossen ihre Rucksäcke nehmen und ins Klassenzimmer marschieren, waren ziemlich beeindruckend. Die meisten Kinder, die in Polen aufgewachsen sind – unsere Schule ist deutsch-polnisch –, hatten ein kleines Problem mit dieser Selbstständigkeit. Sie mussten sie erst noch lernen.

Schwer zu sagen, welcher dieser Ansätze besser ist. In Polen, vor allem in Großstädten und an privaten Schulen, haben wir eine Entwicklung durchgemacht, die in Deutschland gerade erst ankommt und über die Der Spiegel kürzlich ausführlich geschrieben hat. Es ist eine Verschiebung weg von der Disziplin, hin zu einer demokratischeren Erziehung. In der Praxis bedeutet das oft mehr Chaos, aber die Kinder haben mehr Freiheit.

Eltern aus Polen finden es oft schwierig, sich im Berliner Schulsystem zurechtzufinden. All die Gymnasien ab der fünften oder ab der siebten Klasse und der Lateinunterricht ab 11 Jahren, oder auch nicht – all das kann sehr undurchsichtig erscheinen. Dazu der Zweifel, ob ein Schulwechsel nach der vierten Klasse nicht zu anstrengend ist für die Kinder. Aber als Mutter habe ich auch viel Hilfe von den Schulen erfahren, an denen ich meine Kinder anmelden wollte.

Bild: Bartek Mola
Karolina Wigura

ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.

Antiautoritäres Polen? Nun ja: Die polnische Stiftung Dajemy Dzieciom Siłę (Wir geben Kindern Macht) hat vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass mehr als 40 Prozent der polnischen Kinder zu Hause Gewalt ausgesetzt sind und 57 Prozent Gewalt durch Gleichaltrige erfahren. Dazu kommt sexuelle Gewalt, die in Polen in Form von Skandalen nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Auch in Deutschland werden regelmäßig alarmierende Studien und Polizeistatistiken zu diesem Problem veröffentlicht.

Wir haben noch weitere gemeinsame Probleme auf beiden Seiten der Grenze. Depressionen und Suizide unter Kindern und Jugendlichen sind heute eine echte Zivilisationskrankheit. Ob das nun eine Auswirkung der sozialen Medien ist oder der Klimakrise oder letztendlich die verzögerte Wirkung der Pandemie – schwer zu sagen, aber es hilft, zu erkennen, dass dies in Polen und Deutschland gleichermaßen schlimm ist. So können wir Erfahrungen austauschen und uns gegenseitig helfen.

Meine zweite grundlegende Erfahrung war die Art, in der hier die Kinder angesprochen werden. Die Deutschen sind dafür bekannt, dass sie sich gegenseitig auf die Finger schauen und schonungslos kritisieren. Das passiert einer Mutter mit einem Kind oft, auch in der Öffentlichkeit, und für mich war es schwer, mich daran zu gewöhnen. Doch während mich in Polen die Passanten auf der Straße ansprechen („Bitte sagen Sie Ihrem Kind, dass es beim Fahrradfahren vorsichtig sein soll!“), ist das in Deutschland anders: Die Passanten sprechen das Kind meist direkt an – Kinder werden hier also als eigenverantwortliche Subjekte betrachtet.

Meine dritte wichtige Erfahrung war die Art, wie ich als Mutter behandelt wurde. Hier habe ich zwei Arten von Erfahrungen gemacht, und paradoxerweise sind dabei „Polentum“ und „Mutter sein“ getrennt. Einerseits sind Klischees und Vorurteile gegenüber Polen weit verbreitet, die oft aus einem völligen Mangel an Wissen resultieren. Ich begegne diesen Stereotypen oft, zum Beispiel wenn jemand, der von meiner Nationalität gerade erfahren hat, den unbändigen Drang verspürt, mir einen Witz über polnische Autodiebe zu erzählen. Auf der anderen Seite kann aber eine alleinerziehende Mutter hier auf viel menschliches Mitgefühl und Hilfe zählen. Auch wenn ich noch nicht lange genug hier bin, um zu wissen, ob dies das Ergebnis der deutschen „Willkommenskultur“ ist, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat, oder etwas anderes – erwähnenswert ist es allemal.

Ein Vorurteil über die Deutschen dagegen stimmt: Sie mögen keinen Lärm. Dafür sind sie berüchtigt, und Kinder stören sie oft. Von allen Erfahrungen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe, war jedoch nur eine wirklich negativ. Es war eine Nachbarin, die an meine Wohnung klopfte, mich regelmäßig ermahnte, dass mein Sechsjähriger zu laut sei, und einmal, als er in Quarantäne war, drohte, deswegen die Polizei zu rufen.

Ex­per­t*in­nen für das menschliche Gehirn sagen, dass wir uns aus evolutionären Gründen besser an negative Erfahrungen erinnern, und sicherlich hat mich diese unangenehme Begegnung monatelang gestresst. Aber die Summe meiner positiven Erfahrungen übersteigt die negativen bei Weitem. Lasst uns also der Gerechtigkeit Genüge tun und über eine andere Nachbarin schrei­ben, die gerne Überraschungen macht, indem sie kleine süße Geschenke für meinen Sohn an die Klinke meiner Haustür hängt (zusammen mit Blättern, zum Beispiel: „Pass auf deine Zähne auf! Bitte iss nur eine Schokolade pro Tag“).

Oder die Frau, die mich vermeintlich auf der Straße anpöbelte, als mein Sohn hysterisch wurde. Sie fragte erst, ob ich Deutsch spreche, und sagte dann: „Tut mir leid, dass ich Sie störe, ich wollte Ihnen nur sagen, dass meine Tochter sich auch so benahm als Kind und es wirklich vorbeigehen wird, bitte halten Sie durch.“ Für jemanden, der ein sechsjähriges Kind als wichtigsten täglichen Begleiter hat, allein am Anfang seines Aufenthalts in einem fremden Land, bedeutet ein solches Zeichen von Empathie sehr viel. Die Frau blieb mir monatelang in Erinnerung.

Polen und Deutsche haben mehr gemeinsam, als man denkt – auch politisch stehen wir vor einer Reihe gleicher Probleme: Beides sind große Länder in der Mitte Europas, die viele gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Grenze haben. Und doch sind unsere Beziehungen in der letzten Zeit eher unbefriedigend. Wir haben einen langen Prozess der Versöhnung hinter uns – und seit einem Jahr haben wir außenpolitisch das gemeinsame Ziel, der Ukraine zu helfen. Und trotzdem sah es, was unser Verhältnis angeht, lange nicht mehr so schlecht aus, und das ist nicht nur eine Frage der populistischen Propaganda der polnischen Regierung.

Es mangelt nicht nur an Wissen übereinander. Der Versöhnungsprozess zwischen beiden Ländern bestand bislang vor allem aus Treffen zwischen hochrangigen Politiker*innen, Beratungen zwischen Akademiker*innen, unterstützt durch Jugendaustausch. Doch all das reicht in unseren unsicheren Zeiten, Zeiten der sozialen Medien und des schnellen gesellschaftlichen Wandels, nicht mehr aus, um einander näherzukommen.

Wo fangen wir an, um unsere Beziehungen zu verbessern? Das ist eine Frage, die mir in letzter Zeit viele Leute gestellt haben. Vielleicht sollten wir bei den Kindern anfangen. Dadurch würden wir unsere Unterschiede besser verstehen, aber auch die Herausforderungen, die uns vereinen. Ein erster Schritt könnte die Einrichtung neuer deutsch-polnischer Kindergärten und Schulen sein, von denen es derzeit nur sehr wenige gibt.

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5 Kommentare

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  • Es ist immer interessant, einen Blick von Außen auf unsere Gesellschaft vermittelt zu bekommen.



    Die Darstellung der Autorin ist allerdings eine Momentaufnahme und Ihre persönliche, individuelle Erfahrung.



    Die Darstellung, dass Polen in der Schule eine Entwicklung " weg von der Disziplin, hin zur demokratischen Erziehung " durchgemacht haben soll, ist erfreulich.



    Die Behauptung, dass diese Entwicklung in Deutschland gerade erst ankommt, ist jedoch ein Irrtum.



    Als Folge der 68er Revolution hat sich insbesondere in deutschen (Hoch-) Schulen sehr viel geändert.



    Viele antiautoriäre Ansätze sind mittlerweile auch schon wieder Geschichte.



    Deutsche Schulen als Hort der Disziplin zu betrachten, finde ich geradezu albern.



    Ich möchte behaupten, in zweiter Nachkriegsgeneration, an der Schule durchaus zum Demokraten erzogen worden zu sein. Das gilt eigentlich für die gesamte Entwicklung der BRD.



    Der Vergleich zu Frankreich liegt mir näher, doch selbst dieses Land der Revolutionen und Demokratie, hat im Bezug auf Schule noch eher Frontalunterricht zu bieten.



    Sicher ist Schule auch dem Wandel der Gesellschaft unterworfen, jedoch finde ich derzeit, dass vielleicht wieder etwas mehr Lernen im Vordergrund stehen sollte.



    Kinder, die die Schule verlassen sollten Lesen, Schreiben und Rechnen können.



    Leider mache ich zunehmend die Erfahrung, dass diese Grundvoraussetzung für eine berufliche Laufbahn,



    nicht mehr Standard ist.

  • Fröhlicher Kinderlärm sollte für niemanden ein Problem sein. Er ist der angenehmste.

  • Vielen dank Frau Wigura für ihre Worte.



    Sie fragen "Wo fangen wir an, um unsere Beziehungen zu verbessern"?



    Auch ich Frage mich dies des öfteren und denke das es dringend Zeit wird dass polnisch flächendeckend in Berlin und Brandenburg als zweite Fremdsprache angeboten wird. Es ist schon etwas obskur das es in Berlin meines Wissens nur 2 weiterführende Schulen gibt die ponisch anbieten - und das 50km von der Grenze entfernt. Polnisch in der Schule, sowie Schüleraustausch wie es zwischen Franzosen und Deutschen nach dem 2. Weltkrieg in Westdeutschland vielerorts die Regel wurde - wäre sicherlich ein fruchtbarer Boden für verbesserte Beziehungen unter den kommenden Generationen.

    • @niko:

      Meine Tochter ging auf eine solche Schule in Berlin, wo Polnisch angeboten wurde.

      Die Nachfrage war gering.

      Meine Tochter habe ich auch nicht überreden können.

      Zum einen gilt Polnisch als die schwerste aller slawischen Sprachen.

      Zum anderen scheint Paris und Nizza attraktiver als Warschau oder Krakau.

      Die PiS-Regierung ändert daran auch nichts, eher im Gegenteil.

      Gerade wenn Englisch immer mehr die Position der großen lingua franca einnimmt, haben viele keine Lust, nach Englisch noch eine zweite Fremdsprache zu lernen.

      Von Jugendlichen zu erwarten, dass sie die politischen Ideale ihrer Eltern umsetzen, ist tendenziell enttäuschend.

      • @rero:

        OK , ich kann mir gut vorstellen das polnisch bei den Schülern als Wahlmöglichkeit nicht zwingend das meistgewählte Fach ist, allerdings denke ich das bei in der Regel mindestens 4 zügigen weiterführenden Schulen ,zumindest eine klassengrösse mit polnisch als wunschsprache zusammenkommen könnte.



        Bei uns hat es damals beim fünfzügigen Gymnasium auch immerhin für eine Lateinklasse gelangt, der Rest wollte Französisch. Das Polnisch die schwerste slawische Sprache ist , wenn das denn so ist, halte ich für kein gutes Argument, Französisch isz ja im Vergleich zu Polnisch total easy.



        Zu deiner Aussage:



        "Von Jugendlichen zu erwarten, dass sie die politischen Ideale ihrer Eltern umsetzen, ist tendenziell enttäuschend." -



        Ich erwarte von der Jugend gar nichts, halte es allerdings für selbstverständlich das die Erwachsenengeneration den Lehrplan und somit zum weitesten teil die Lerninhalte für die Schüler bestimmt, wer denn sonst? Das die Schule somit auch die politischen Inhalte der an der Macht befindlichen Erwachsenen vermittelt ist weltweit und auch in der Vergangenheit immer der Fall gewesen, egal ob zu Kaiserzeit, Hitlerzeit, DDRzeit oder zu Zeiten der BRD im westen oder heute.



        Sich verständigen zu können mit Bürgern der Nachbarstaaten, idialerweise Freundschaften über grenzen hinweg zu bilden, ist aktive Friedenssicherung. Und dies sollte auch im Interesse der kommenden Generation sein.