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Ein anderes Gottesbild

Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen finden in der kirchlichen Seelsorge zwar menschlichen Beistand – biblischen Trost und liturgische Formen eines Umgangs mit diesen traumatisierenden Erlebnissen haben die Kirchen jedoch nicht im Angebot. Inzwischen gibt es Ansätze, eine feministische Seelsorge mit alltagsorientierten Ritualen zu begründen  ■ Von Astrid Prange

Ein bißchen verrückt sei sie schon immer gewesen, entschuldigt sich Beate S. aus Magdeburg. Bis zu sechs Stunden am Tag verbringt sie vor dem Waschbecken. Ja, sie sei dabei, sich „zu Tode zu waschen“. Die 36jährige verbarrikadierte sich solange im Badezimmer, bis sie irgendwann in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Doch auch dort hörten der Waschzwang und die Stimmen, die in ihrem Kopf dröhnten, nicht auf. „Beate, ich warne dich. Du allein bist schuld. Du darfst den Bann nicht brechen“, drohte eine männliche Stimme immer wieder.

Der Bann des Schweigens war Beate S. von ihrem Vater auferlegt worden. Er hatte sich an ihrem 16. Geburtstag zu ihr ins Bett geschlichen und ihr befohlen, sich auszuziehen und seine Genitalien zu berühren. Als ihre große Schwester von zu Hause auszog, machte sich der Vater regelmäßig über Beate her. Immer nach den Chorproben legte sich der Kirchenmusiker zu seiner jüngsten Tochter ins Bett. Aus Angst schloß sich das Mädchen im Badezimmer ein, ließ stundenlang das Wasser laufen und wusch sich. Ihr Vater klopfte cholerisch an die Tür, bis sie aufmachte.

Wie kommen gläubige Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen zurecht? Bestärkt sie ihr Glaube im Widerstand, oder leiden sie gleichsam doppelt, nicht nur an der sexuellen Gewalttat, sondern auch an der Tabuisierung des Themas in der Kirche? Die Theologin Julia Strecker, von 1992 bis 1996 Pastorin für Frauenberatung und Mädchenarbeit im Kirchenkreis Köln-Mitte, hat die Erfahrungen aus ihrer seelsorgerischen Praxis aufgezeichnet. Erstmals liegt damit im deutschen Sprachraum ein Handbuch und Nachschlagewerk zur feministischen Seelsorge vor.

Bei der Suche nach geistigem Beistand für die Opfer sexueller Gewalt geriet die Theologin zunächst allerdings selbst in Nöte. In der Bibel suchte sie vergeblich nach „Power-Mädchen, die sich wie der kleine David durchsetzen“. Im Gegenteil, sie stieß auf die Prophetin Mirjam, die Schwester Moses', die von Gott mit Lepra bestraft wird, weil sie sich gegen die Heirat ihres Bruders mit einer fremden Frau wandte (4. Mose, 12). Ihr Bruder Aaron wird nicht bestraft, obwohl er ebenfalls gegen die Heirat protestiert hatte. Oder auf Dina, die Tochter Jakobs und Leas, die bei einem Spaziergang vergewaltigt wurde. Zwar rächen ihre Brüder diese Untat, zugleich aber instrumentalisieren sie die Rache für ihre ureigene Fehde mit den Widersachern. Dina ist nichts als ein Opfer, ihre einzige aktive Handlung, der Spaziergang, ihr Verhängnis (1. Mose, 34).

Wer und wie die biblischen Frauen wirklich waren, ist nur mühsam zu erheben“, räumt Herbert Haag, ehemaliger Professor für Altes Testament an der Universität Tübingen ein. Nachdem nämlich das biblische Volk Israel sich zur Vorstellung eines einzigen männlichen Gottes durchgerungen hätte, sei die Frau von den biblischen Schriftstellern immer mehr abgewertet worden. „Debora, die große Prophetin und Richterin, die durch Heldenmut die israelischen Stämme in einer großartigen Aktion gegen die kanaanitischen Könige zu einer Nation geeint hat, verschwindet aus dem Bewußtsein, während ihr kleinmütiger Feldherr Barak noch zweimal lobend in der Bibel erwähnt wird“, bestätigt der Autor des Bildbandes „Große Frauen der Bibel“.

Seelsorgerin Julia Strecker konnte und wollte sich mit „diesen Geschichten, die Frauen klein machen, bestrafen, in die Ecke stellen und seelisch beschädigen“ nicht abfinden. „Bei jeder Frau, die in meiner Beratung von ihrer gewaltgeprägten Kindheit erzählte, fühlte ich mich herausgefordert, Worte und Stimme für mein Entsetzen und meine Wut zu finden“, schildert sie ihre Erfahrungen. Aus ihrer Wut auf patriarchalische Bibelautoren machte sie sich auf die Suche nach neuen Interpretationen biblischer Frauengeschichten, die sie mit aktuellen Forderungen nach einer frauenfreundlicheren Kirche verknüpfte.

Die Vergewaltigung von Jakobs Tochter Dina verwandelt Strecker durch ihre feministische Auslegung in einen Aufruf zum „kollektiven Widerstand gegen sexuelle Gewalt“. „Ich klage Gott an, daß er sich nicht eindeutig auf die Seite Dinas gestellt hat“, erläutert sie. Dies bedeute, eindeutig Stellung für die Opfer sexueller Gewalt zu beziehen und das Vergessen und Verschweigen endlich zu brechen. Strecker weiß, daß gerade in der Kirche „das Thema sexuelle Gewalt ein heißes Eisen“ ist. Gerade deswegen will sie den heutigen Leidensgenossinnen der alttestamentarischen Dina zu einer Stimme in ihrer jeweiligen Gemeinde verhelfen. „Erst wenn Frauen und Männer erkennen, daß Gott solange schweigt, wie wir schweigen, erst wenn wir unsere Stimme gegen Gewalt erheben, erst dann wird Gott in seiner Parteilichkeit sichtbar“, ist sie überzeugt.

In der feministischen Seelsorge soll es nicht darum gehen, jede Frau als einzelne Persönlichkeit mit ihren Störungen, Sünden oder Schwächen zu analysieren oder zur Veränderung zu bringen, sondern darum, die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen sich ihre Lebensmuster gebildet haben, unter erweiterter Perspektive zu betrachten. In der Praxis ist die Seelsorge für Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen eine Gratwanderung, denn es geht um Erfahrungen, die mit einem Sprachtabu belegt sind. „Häufig wird Frauen, die ihr Geheimnis verraten, gesagt, sie seien verrückt“, kommentiert Julia Strecker den Fall von Beate S. aus Magdeburg. Die „Grenzgängerin“, wie Strecker sie nennt, brauchte zwei Jahre, um den „Bann zu brechen“, den Waschzwang abzulegen und die widerstreitenden Stimmen in ihrem Kopf, die ihr den Verdacht eintrugen, sie sei schizophren, zu entlarven. Bei einem Rollenspiel während der Therapie stellte sich heraus, daß es sich dabei um die Äußerungen ihrer Mutter, der Schwester und des Vaters handelte.

Die Frauen, die zwischen 1992 und 1996 in Köln in die Frauenberatung von Julia Strecker kamen, suchten ihren Beistand als Pastorin. So kämpfte zum Beispiel eine Mutter jahrelang nach der Geburt ihrer Tochter mit einem schlechten Gewissen, weil sie die erste Schwangerschaft abgebrochen hatte. Sie hatte sich nicht dazu durchringen können, ein behindertes Kind in die Welt zu setzen, und erbat nun eine Absolution und ein Ritual, um endgültig Abschied zu nehmen. Andere Frauen suchten für sich selbst und für ihre Kinder „den Draht nach oben“. „Die Frauen kommen zu mir mit einer bestimmten Erwartungshaltung“, erklärt Julia Strecker. „Sie erwarten nicht nur ein offenes Ohr und Herz, sondern auch, daß ich als religiöse Expertin bestimmte Fragen für sie beantworten kann.“

Die feministische Theologin betet mit ihren Klientinnen nicht „zum allmächtigen Vater im Himmel“. „Ich glaube an Gott als Freundin und Begleiterin, als Strang in den Beziehungen“, bekennt sie. Gott als Schwester und Verbündete? Maria als autonome Kämpferin? Mirjam als Widerspenstige und Dina als Tabubrecherin? Vielen Frauen fiel der Umgang mit dem andersartigen Gottesbild und den wiederentdeckten biblischen Frauenfiguren schwer. Patientin Rosie S. brachte die Sache auf den Punkt: „So wie Sie von Gott reden, ist er irgendwie viel näher, aber ich weiß nicht, ob das dann noch etwas mit Gott zu tun hat. Das mit Gott ist in meinem Kopf irgendwie alles viel heiliger.“

Von solchen Wahrnehmungen läßt sich Julia Strecker nicht entmutigen. Nur wenn Frauen innerhalb der Kirche aufgewertet würden, liefen sie ihr nicht mehr in Scharen davon, lautet ihre These. „Wir brauchen Rituale, wenn wir Seelsorge betreiben“, fordert sie – und zwar neue, nicht nur die herkömmlichen wie Konfirmation, Taufe, Hochzeit und Beerdigung. Es müsse Übergangsrituale für Mädchen geben, zum Beispiel für die erste Menstruation, für den Auszug von zu Hause oder Liebeskummer. Auch getrennte Paare bräuchten mehr geistige Zuwendung. „In den letzten Jahren gab es Veröffentlichungen von Scheidungspredigten“, erinnert Strecker, „wo aber finden Menschen Anregungen für Abschiedsrituale, die sich nicht auf das klassische Gottesdienstmuster reduzieren lassen?“

Julia Strecker, zur Zeit Pfarrerin in der evangelischen Studentengemeinde in Köln, erwartet von ihrer Kirche Hilfe und eine Heimat für Frauen. Sie hofft darauf, daß vor dem Altar Gewalterfahrungen „enttabuisiert“ werden und dort künftig auch diejenigen niederknien können, die sich für eine andere Lebensform als das klassische Kleinfamilienmodell entschieden haben, zum Beispiel lesbische Frauen. „Auch Jesus war ein Grenzgänger“, ist die Autorin überzeugt. Sie versucht die Frauen in ihrer Beratung davon zu überzeugen, daß der eigene, wenn auch schwierige Weg von Gott gewollt ist.

Lange fühlte sich Julia Strecker selbst heimatlos in der evangelischen Kirche. Mittlerweile hat sie sich aus ihrem Schattendasein befreit und für sich und ihr Anliegen ein kleines Stück Heimat erkämpft. Auch wenn sie vor übertriebenen Erwartungen warnt: „Feministische Seelsorge kann in den meisten Fällen nur punktuelle, wenn auch wesentliche Weichenstellungen vornehmen.“ Das Pfarramt mit seinen vielen Aufgaben könne aber keine langfristige therapeutische Arbeit leisten.

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