Ein Jahr Proteste in Iran: Haarspalterei der Hardliner
Die Mullahs in Iran versuchen ihre Herrschaft zu verteidigen. Vor dem Jahrestag der Protestbewegung ist der Druck so hoch wie nie – auf beiden Seiten.
A n einem lauen Abend Anfang September fährt Nilufar vorbei an hippen Cafés, Restaurants und Läden mit Designer-Marken. Die Valiasr-Straße im Norden von Teheran wirkt so schmuck und mondän, dass man leicht vergisst, dass sie sich in einem autoritär geführten islamischen Gottesstaat befindet. Nilufar will gerade ihr Auto parken, als mehrere Polizisten sie umkreisen und ihre Dokumente einfordern. Erst jetzt wird Nilufar bewusst, dass sie ihr Kopftuch nicht trägt, rasch zieht sie es sich über ihr schulterlanges Haar.
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Zu spät. Schon hat einer der Polizisten ihre Daten in einer internen Datenbank eingegeben. Dort wird angezeigt, dass Nilufar in den vergangenen Monaten durch eine Überwachungskamera schon dreimal ohne Kopftuch am Steuer geblitzt wurde. „Pack deine Sachen“, sagt einer der Polizisten, „du kommst jetzt mit auf die Station.“ Nilufar bricht in Tränen aus, wie sie später auf Telegram erzählt. Ihr echter Name soll zu ihrem Schutz nicht in der Zeitung stehen.
Der Befehl des Polizisten flößt ihr Panik ein, sie muss an Jina Mahsa Amini denken, die vor fast genau einem Jahr ebenfalls wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs festgenommen wurde und die man auf einer Polizeiwache derart misshandelt hat, dass sie an den Folgen starb. Ihr Tod hatte monatelange Proteste ausgelöst – und war der Anfang einer Bewegung, im Zuge derer immer mehr iranische Frauen sich der geltenden Kopftuchpflicht widersetzen.
Das Regime reagierte auf die Proteste mit Gewalt, mehr als 500 Demonstrant:innen wurden getötet, der Aufstand auf den Straßen wurde dadurch vorerst gebrochen. Es bleibt der zivile Ungehorsam.
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Dass Frauen ihr Kopftuch nicht tragen – bislang unvorstellbar in Iran – gehört zumindest in den Städten längst zum Alltag. Doch anstatt die Sittengesetze zu lockern, versuchen die regierenden Hardliner das, was als größte Krise der Islamischen Republik seit ihrer Gründung 1979 gilt, durch Massenüberwachung und verschärfte Strafmaße den Aufstand in den Griff zu kriegen. Kameras mit Gesichtserkennung nehmen unverschleierte Frauen am Steuer auf, dreimal bekommen die Betroffenen eine Verwarnung per SMS zugeschickt. Beim vierten Mal wird der Wagen konfisziert – wie bei Nilufar.
Nilufar, Studentin aus Teheran
An Straßenprotesten teilzunehmen, war Nilufar, einer Theaterstudentin Anfang 20, immer zu gefährlich. Doch auf den Zwangshidschab zu verzichten, das gehört in ihren Kreisen – Künstler:innen und Intellektuelle – schon fast zum guten Ton. Dem Anruf ihres Vater, eines Anwalts, bei der Polizei ist es zu verdanken, dass sie nicht selbst mit auf die Wache musste. Der Vater versicherte der Polizei, dass er am nächsten Tag persönlich das Auto auf der Station abliefern würde.
Eine Woche blieb das Auto konfisziert, dann erhielt es Nilufar gegen ein Bußgeld zurück. Sollte sie noch einmal ohne Kopftuch erwischt werden, drohen ihr Strafzahlungen bis zu 360 Millionen Iranischen Rial (umgerechnet über 700 Euro, das Äquivalent von gut vier iranischen Monatslöhnen) und bis zu zehn Jahre Haft.
Vor allem aber richten sich die neuen Sanktionen gegen Menschen und Organisationen, die Frauen ohne Kopftuch Dienstleistungen gewähren: Cafés und Geschäfte müssen mehrere Monate schließen, Fahrzeuge von Taxifahrern werden beschlagnahmt.
Es geht um die Haare
Anfang September gab das Regime auch eine neue App namens „Nazer“, zu Deutsch „Wächter“, heraus, mit der man Frauen ohne Kopftuch direkt bei den Behörden melden kann. Wer die App nutzen will, muss sich jedoch zuerst bei einem Komitee anmelden und einen Kurs dazu absolvieren – eine Maßnahme, die wohl auch dazu dient, dass die App wirklich nur von regimetreuen Personen benutzt und nicht mit falschen Meldungen überladen wird.
So versucht das Regime, die Menschen gegeneinander aufzubringen und unverschleierte Frauen gesellschaftlich auszugrenzen, anstatt sie direkt oder gar körperlich anzugreifen. Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Willen, das islamische Herrschaftssystem zu erhalten, und der Gefahr, durch die Gewalt gegen Frauen neue Proteste auszulösen.
„Sie wissen: Wenn sie unser Haar nicht unter Kontrolle haben, kontrollieren sie gar nichts. Das ist der wahre Grund für solche Maßnahmen, nicht Religion“, kommentiert Nilufar den Vorfall mit ihrem Auto.
Nicht nur wegen der Repression auf der Straße hat sie entschieden, nach ihrem Studienabschluss nach Europa zu emigrieren. Die Theaterarbeit sei seit den Protesten im letzten Jahr unmöglich geworden. „Sie kontrollieren jedes Stück, jede Aufführung – das war früher nicht so“, berichtet Nilufar. „Selbst der Name ‚Mahsa‘ – in Iran ein sehr verbreiteter Frauenname – ist jetzt in unseren Stücken verboten, weil er an Jina Mahsa Amini erinnern könnte.“
Helden der sozialen Medien
Die staatliche Repression erreichte in den vergangenen Wochen einen neuen Höhepunkt. Grund dafür ist der bevorstehende Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini am 16. September. Seit Monaten wird zu diesem Anlass mit einem Wiederaufflammen der Proteste gerechnet. Aktivisten und Aktivistinnen sowie die Regimekräfte bereiten sich gleichermaßen darauf vor.
Im Visier des Regimes stehen vor allem Journalistinnen, wie Nazila Marufian, die wegen eines Interviews mit dem Vater von Jina Mahsa Amini am 3. September zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und die in einem Telefonat aus dem Gefängnis von sexualisierter Gewalt bei der Verhaftung berichtete.
Oder Elnaz Mohammadi und Negin Bagheri, die ebenfalls am 3. September wegen „Verschwörung“ zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wovon ein großer Teil zur Bewährung ausgesetzt wurde. Elnaz ist die Schwester der Journalistin Elaheh Mohammadi, die wegen ihrer Reportage über das Begräbnis von Jina Mahsa Amini seit fast einem Jahr in Haft ist.
Dass über die Opfer der staatlichen Unterdrückung etwas bekannt wird, will das Regime um jeden Preis verhindern. Getötete Demonstrant:innen werden in Iran wie Nationalhelden verehrt, an ihren Geburtstagen wird gefeiert, an ihren Todestagen getrauert, den Familienangehörigen folgen in den sozialen Medien Hunderttausende Iranerinnen und Iraner.
Märtyrer gegen das Regime
Das hat mit dem Märtyrerkult zu tun, der bei schiitischen Muslimen und mittlerweile auch bei säkularen Iranerinnen und Iranern eine große Rolle einnimmt. Menschen, die für ein gerechtes Ideal sterben, werden zu Vorbildern. Ihr Tod schreckt manche ab, er motiviert aber mindestens genauso viele zum Nachahmen. Das Mobilisierungspotenzial der Angehörigen ist entsprechend riesig.
Das Regime weiß das – und ließ in den letzten Wochen, im Vorfeld des Jahrestags, auch Dutzende Familienmitglieder getöteter Demonstranten im ganzen Land festnehmen oder entführen. „Die Angehörigen stehen unter extremem Druck“, bestätigt Erfan, ein Maschinenbau-Student Ende 20, der eigentlich anders heißt und aus Sicherheitsgründen nur über selbstlöschende Telegram-Nachrichten im Geheimmodus kommuniziert. Erfan steht selbst mit den Familien zweier „Märtyrer“ im Südwesten Irans in Kontakt, er berichtet, dass die Angehörigen ihre Arbeit verlieren und dass ihre Smartphones konfisziert wurden.
Auch Erfan, der selbst an den Protesten beteiligt war, bekommt regelmäßig Anrufe von privaten Nummern auf seinem Handy. Hebt er ab, spricht eine tiefe Stimme am anderen Ende einschüchternde Botschaften: „Wir wissen, was du letztes Jahr getan hast. Wir haben so viele Beweise, dass wir dich jederzeit verhaften könnten. Pass auf, was du in den nächsten Tagen tust.“
Für beide, Opposition und Regime, steht in diesen Tagen vieles auf dem Spiel. Sollte es dem Regime gelingen, Proteste im Keim zu ersticken, könnte das auf die Demonstrant:innen demotivierend wirken und neue Aufstände für längere Zeit verhindern. Aber auch das Gegenteil ist möglich. Wie eine geleakte Tonaufnahme neulich zeigte, warnte ein ranghoher Offizier der Revolutionsgarden in einer internen Versammlung die Anwesenden: „Sollte der Protest dieses Mal wieder die Straße erreichen, ist das unser Ende.“
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