Ein Jahr Jamaika in Schleswig-Holstein: An der Schmerzgrenze
Seit fast einem Jahr regiert in Schleswig-Holstein eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP. Ohne offenen Streit, aber hinter den Kulissen rumort es.
An der grünen Schmerzgrenze befindet sich die Abschiebehaftanstalt, die in einer ehemaligen Kaserne in Glückstadt an der Elbe entstehen soll. Die Vorgängerregierung aus SPD, Grünen und SSW hatte 2014 die ehemalige Abschiebehaft in Rendsburg geschlossen – nun müssen die Grünen im Landtag die Finger für den neuen Bau heben. Die Haftanstalt käme zwar, sagt Regis, „aber nur mit grünen Korrekturen: innere Offenheit, Sozial- und Asylberatung. Es darf kein Knast werden.“
Schleswig-Holsteins Flüchtlingsbeauftragter Stefan Schmidt kritisiert die Einrichtung dennoch „grundsätzlich“ und fordert weitere „Mindeststandards“: soziale Betreuung, juristische Beratung und Bewegungsfreiheit im Inneren, Sport- und Freizeitangebote. Dass CDU und FDP auch Familien, Schwangere und Minderjährige in Glückstadt kasernieren wollen, kritisiert auch die SPD. „Das entspricht nicht mehr der humanen Flüchtlingspolitik in Schleswig-Holstein, die bisher einen breiten politischen Konsens darstellte“, sagt deren flüchtlingspolitische Sprecherin Serpil Midyatli.
Rumort es wegen solcher Themen in der Jamaika-Koalition? „Ich habe in gut unterrichten Zeitungen gelesen, dass es so sein soll“, sagt Daniel Günther. Klar sei, dass nicht alles „das Herzblut aller beteiligten Parteien“ sei. „Aber das ist öffentlich bekannt.“ Zu weiteren öffentlich bekannten Streitpunkten gehört auch der von Dänemark geplante Ostseetunnel im Fehmarn-Belt.
„Wir sind einig, dass wir nicht immer einig sind – unter diesem Motto arbeitet die Koalition, die fast Modell für den Bund geworden wäre, seit Juni vergangenen Jahres. Die Grünen nehmen für sich in Anspruch, die soziale Frage zu stellen und Solidarität und Gerechtigkeit im Blick zu behalten“, sagt Regis: „In der Koalition sind wir Grünen links.“
Die erste Jamaika-Koalition in einem deutschen Bundesland regiert in Schleswig-Holstein und zwar seit dem 28. Juni 2017.
Das Kabinett besteht aus Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) und sieben MinisterInnen: drei CDU-Leute und je zwei von den Grünen und der FDP.
Die Landtagswahl am 7. Mai 2017 hatte folgendes Ergebnis: CDU 32,0 Prozent, SPD 27,3 Prozent, Grüne 12,9 Prozent, FDP 11,5 Prozent, AfD 5,9 Prozent, SSW 3,3 Prozent.
Nach der Mandatsverteilung ist die Jamaika-Koalition mit 44 Sitzen (CDU 25, Grüne 10, FDP 9) auf eine klare Mehrheit gegenüber der Opposition (SPD 21, AfD 5, SSW 3) mit 29 Sitzen gekommen.
Die CDU hat sich hingegen urgrüne Themen angeeignet: Windenergie-Ausbau ist ein zentrales Thema der ganzen Regierung, im Juli soll dazu ein Konzept vorgestellt werden. In der Folge wird es um die Frage gehen, wie das Windstrom-Land seine Energieüberschüsse speichern und verwerten kann, da die Leitungen gen Süden auf sich warten lassen. Ein Problem damit, dass der frühere Gegner im eigenen Themenfeld wildert, hat Regis nicht: „Grüne Themen sind auch beim Ministerpräsidenten präsent. Das zeigt unsere starke Rolle.“
Der Bau von Windrädern, Kita-Gebühren, kommunaler Finanzausgleich und der Verkauf der HSH-Nordbank – es klingt wenig spektakulär, womit sich Jamaika aktuell befasst. Dennoch steckt in allen Fragen Zündstoff: „Wir haben Dinge angeschoben, aber noch längst nicht abgeräumt“, sagt Günther.
In den nächsten Monaten könnte sich etwas im Zusammenspiel verschieben, wenn Robert Habeck, bisher prägende Gestalt im Landesverband und in der Regierung, aus dem Kabinett ausscheidet und sich auf seinen neuen Job als Grünen-Bundesvorsitzender in Berlin konzentriert. Die FDP hatte ihren Lautsprecher Wolfgang Kubicki im Herbst in die Bundespolitik ziehen lassen – möglich, dass sich das mittelfristig auch bei Wahlen auswirkt. In der Vergangenheit schnitten die Liberalen im Land oft besser ab als im Bundestrend, das wurde dem Bekanntheitsgrad des Rechtsanwalts mit dem schnellen Mundwerk zugerechnet.
Droht den Grünen ähnliches? „Nein“, sagt Steffen Regis, „das Zugpferd Robert Habeck ist nicht weg. Die Zügel werden nur länger.“ Viel Gegenwind durch die Opposition muss die Regierung nicht fürchten: Die drei Abgeordneten der Minderheitenvertretung SSW setzen auf konstruktive Zusammenarbeit, die fünf AfDler sind inhaltlich schwach, ihre Anträge sind häufig Kopien aus anderen Ländern und kreisen um die ewig gleichen Themen. Die SPD steht nach Wahlniederlagen – zuletzt bei den Kommunalparlamenten – vor der Aufgabe, sich neu aufzustellen.
„Angst vor der SPD hatte ich nie – Respekt zuletzt heute“, beteuert Günther. „Es wäre ja schlimm, wenn man keinen Respekt vor dem politischen Gegner hätte.“ Klingt ein bisschen nach Mitleid.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“