Ehrenamt im Krankenhaus: Frau Lenz hört zu
Mit Patienten sprechen – Ärzte und Pflegende haben dafür meist keine Zeit. Fast 10.000 Ehrenamtliche haben es nicht so eilig.
„Guten Tag, mein Name ist Lenz, ich bin vom Ehrenamtlichen Besuchsdienst und habe Zeit für Sie. Brauchen Sie etwas?“ – „Danke!“ In einem Zimmer mit drei Patienten lehnt ein Mann, Anfang 60, zunächst ab. „Meine Frau kommt heute noch“, schiebt er nach. Er liegt in Trainingshose auf dem Bett, die gestreifte Krankenhausdecke um die Beine gelegt. Lenz’ Blick sucht, dann lobt sie die frischen Blumen auf dem Nachttisch und wünscht alles Gute für die Zeit im Krankenhaus.
Plötzlich sprudelt es doch aus ihm heraus. Die Operation gestern habe er gut überstanden. Seine Frau war auch schon einmal im Virchow-Klinikum auf der Station 4. Ein alter Schulfreund komme später auch. Es scheint, als wolle er gar nicht mehr aufhören zu reden. Der junge Mann auf dem Bett nebenan spielt mit seinem Smartphone. Er wurde heute operiert, das Sprechen fällt ihm noch schwer. Er bedankt sich für das Redeangebot, aber Chatten sei in seinem Zustand einfach leichter, gibt er zu verstehen. Der dritte Patient schläft.
Astrid Lenz wird in den Zimmern meist offen empfangen. Eine Abfuhr ist selten. Aber Lenz versteht, wenn Menschen in Krisen kein Interesse am Besuchsdienst haben. „Ich weiß selbst nicht, ob ich so wild darauf wäre.“ Diagnosen sind ihr in der Regel nicht bekannt, sagt sie. Und dass sie froh darüber sei. „Wenn man nichts weiß, finde ich das einfacher.“ Astrid Lenz hört von den Kranken viel über private Nöte zu Hause. Ein Angehöriger etwa, der jetzt allein zu Hause bleiben oder eine Katze, die nun von Fremden versorgt werden muss, solche Geschichten sind es, sagt Lenz. „Die Krankheit steht gar nicht so im Vordergrund“.
Kein Therapieersatz
Auf der Station 4 gibt es auch Patienten, die bei Überfällen und häuslicher Gewalt schwer verletzt wurden. Lenz hat für solche Patienten auch schon beim Opferhilfeverein Weißer Ring angerufen und um zusätzliche Hilfe für die Patienten gebeten. Manchmal sind Justizbeamte mit im Zimmer, weil ein Häftling aus der JVA Tegel behandelt wird. Lenz erinnert sich, wie sie den Beamten neben dem Bett fragte, ob sie auch mit diesem Patienten sprechen darf. Er erlaubte es. Der mit Fußfesseln fixierte Häftling wollte reden.
„Jetzt lieg’ ich hier und der Mensch“, er deutete auf den Beamten, „redet überhaupt nicht mit mir.“ Das habe sie noch beschäftigt, als der Tag im Krankenhaus längst zu Ende war, sagt Lenz. „Ich mach das alles mit mir selber aus.“ Wenn das aber nicht klappt ist im Gruppenraum immer eine andere Grüne Dame zum Reden da. Außerdem gibt es regelmäßig Treffen mit Seelsorgern der Klinik. „Man muss als Grüne Dame mit beiden Beinen fest im Leben stehen“, sagt Lenz.
Die Evangelische Krankenhaus-Hilfe e. V. (eKH) wurde 1969 in Düsseldorf gegründet. Vorbild war der ehrenamtliche Dienst des Volunteer Service in den USA.
Der ehrenamtliche Besuchsdienst Grüne Damen und Herren ist kirchenübergreifend organisiert. Zu Beginn des Jahres 2017 waren deutschlandweit 8.412 Frauen und 719 Männer ehrenamtlich als Grüne Damen und Herren im Einsatz.
In 443 Krankenhäuser und 183 Altenhilfeeinrichtungen arbeiten die Helfer rund 1,8 Millionen Stunden pro Jahr.
So ein Dienst im Krankenhaus sei kein Therapieersatz. „Man sollte nicht kommen, um etwas zu verarbeiten.“ Die Planerinnen, die die Schichten einteilen, fragen Interessierte vorher immer, ob es aktuell einen Trauerfall in der Familie gebe. Es gehe beim Besuchsdienst nicht darum, etwa eigene Versäumnisse in der Krankenpflege aufzuarbeiten. Diese Arbeit ist für Lenz dennoch „keine Einbahnstraße“: Positive Eindrücke, Dankbarkeit, kommen für sie zurück. Sie habe viel von Menschen gelernt, sagt Lenz. Wie manche mit ihrem Schicksal umgehen, beeindruckt sie.
Ein halber Tag für fremde Menschen
Lenz, längst Rentnerin, hat zwei erwachsene Kinder, der Sohn lebt mit seiner Familie in der Schweiz. Enkelbesuche haben Vorrang vor dem Ehrenamt. Sie habe auch so genug zu tun, sagt sie, aber „diesen einen Vormittag setze ich ganz bewusst für fremde Menschen ein“. Lenz wirkt jünger als 74. Sie ist kaum geschminkt, die grauen Haare trägt sie kurz. Ihre Füße stecken in Sneakern. Bequeme Schuhe für die langen Flure im Krankenhaus. Im Sitzen stützt sie das Kinn auf gepflegte Hände, setzt eine Brille auf, wenn sie sich in den Dienstbüchern über das Geschehen auf der Station 4 informiert.
In den Büchern sind auch Wünsche von Patienten und Patientinnen vermerkt, natürlich ohne Namen. Da steht dann: „Bringt für die Patientin am Fenster in Zimmer 12 eine Zeitung mit.“ Astrid Lenz ist fast von Anfang an als Grüne Dame in Berlin dabei. 1994 sah sie eine Anzeige in der Zeitung. Ehrenamtliche Grüne Damen, aber auch Herren, wurden für das Virchow-Klinikum gesucht. Lenz arbeitete damals nicht mehr in Vollzeit als Chemotechnikerin, nach der Arbeit im Labor hatte sie Lust auf ein soziales Ehrenamt. „Dass ich das kann, wusste ich.“ Lenz hat zwei Freundinnen bis zum Tod begleitet.
Die erste Berliner Gruppe hatte ihre Arbeit erst ein halbes Jahr vorher aufgenommen. Damals wurden nur die Onkologie und die Dermatologie vom Besuchsdienst betreut. Heute besuchen die Ehrenamtlichen dienstags und donnerstags 18 Stationen auf dem Campus Virchow. Hier entstand der erste Besuchsdienstes, heute besuchen Freiwillige Patienten in acht Berliner Krankenhäusern. In den Anfangszeiten halfen den beiden Gründungsdamen ihre persönliche Kontakte zu Ärzten. Es gab Professoren, die den Besuchsdienst unbedingt auf ihren Stationen wollten.
Auch Grüne Herren sind dabei
Die Belegschaft war durch die Ehrenamtlichen verunsichert, hatte damals sogar Angst um ihre Arbeitsplätze. Heute sind die Grünen Damen und Herren nicht mehr wegzudenken. Schwester Nadine sieht in den Ehrenamtlichen eine Ergänzung zur medizinischen Krankenhausbetreuung, sagt sie. Die 34-jährige arbeitet seit 2006 in der Klinik für Mund-, Kiefer,- und Gesichtschirurgie mit den Freiwilligen.
Inzwischen gibt es auf dem Campus Virchow auch Grüne Herren. Fürsorge war in Lenz’ Generation oft Frauensache. In der Gruppe ändert sich dies. Lenz ist wichtig, dass sie ohne Zeitdruck mit den Patienten arbeiten kann. Sie kommt einmal die Woche für einen halben Tag in die Klinik, spricht mit den Kranken über ihre Krankheit oder Privates. Schwestern und Pfleger haben diese Freiheit nicht. Den Patienten könnten sie im Klinikalltag oft gar nicht „wertfrei“ oder „neutral“ begegnen, findet Lenz.
Sie versucht die Patienten auch untereinander ins Gespräch zu bringen. „Katalysator“ sein, nennt sie das – ihr beruflicher Hintergrund als Chemielaborantin klingt durch. Wenn sie damit Erfolg hat, denkt Lenz: „Prima, die brauchen mich gar nicht mehr, die reden jetzt miteinander.“ Lenz war auch schon bei Veranstaltungen von Ärzten, Pflegern und Schwestern. Sie „schmort nicht gern im eigenen Saft“, sagt sie. Mit diesem Wissen kann sie dann Patienten versichern, dass die von ihnen oft nur als „weiße Wolke“ wahrgenommene Chefarztvisite nicht aus herzlosen Technokraten besteht.
Wenn der Patient entlassen ist, ist die Arbeit für die Grüne Dame zu Ende. Aber es bleibt für Lenz Unerledigtes zurück. Sie hat viel über den Menschen erfahren, über Sorgen gesprochen und kann jetzt als Ehrenamtliche nichts weiter für ihn tun. „Ich musste lernen damit umzugehen, dass ich nicht alles regeln kann.“ Lenz ist dennoch zufrieden damit, was sie an ihrem halben Tag leistet.
Junge Menschen erwünscht
„Ich hab' den Oma-Bonus“, sagt sie. Ab 18 darf man beim Besuchsdienst mitmachen, aber die meisten Grünen Damen und Herren sind um die 60. Ein junger Mensch bringe „eine ganz besondere Fröhlichkeit mit ins Krankenzimmer“, sagt Lenz. „Da kann man dann auch mal nur übers Wetter reden und nicht gleich über Krankheit“.
An jedem Dienstag um 9 Uhr im Gruppenraum der Grünen Damen und Herren auf dem Campus Virchow beginnt für Astrid Lenz die Arbeit. Für die gebürtige Berlinerin heißt das: Eine Stunde Anfahrt mit der S-Bahn aus Oranienburg. „Um diesen Dienstag strick’ ich nicht alles“. Ihr Ehemann ist es gewohnt, dass Frau Lenz Interessen hat, die er nicht teilt. Das Ehrenamt wird toleriert, solange es den Familienurlaub bei den Enkeln nicht stört.
Sie rücken die Tische im Gruppenraum zusammen, 34 Grüne Damen und Herren haben Platz. Wer kommen möchte, trägt sich in eine Liste am Schwarzen Brett ein. Einige Namen stehen schon drauf, jemand bringt Kuchen mit. Über dem Einsatzplan hängt ein Kreuz, der Besuchsdienst gehört zur evangelischen Pflegeverein, kümmert sich aber um alle Kranken. Vor einiger Zeit bat ein Patient Lenz, mit ihm zu beten. Sie ist keine praktizierende Christin, aber ein schlichtes Gebet ist ihr gelungen, der Patient war glücklich.
Gegen Mittag ist ihr Dienst zu Ende. Zurück im Gruppenraum kann sie nach vier Stunden und acht Krankenzimmern „Keine Besonderheiten“ notieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken