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E-Mail an Corona-SkeptikerinDas macht mich wütend

Unser Autor bekommt eine E-Mail von einer Person, die ihm nahesteht. Voll mit Halbwahrheiten und zurechtgedrehter Kritik zu Corona. Hier die Antwort.

Kritisch bleiben ist wichtig, Quellen überprüfen auch Foto: Jens Gyarmaty

Liebe X,

wir kennen uns schon eine ganze Weile. Dass wir politisch nicht immer einer Meinung sind, ist mir gelegentlich aufgefallen. Als ich deine letzte Mail gelesen habe, musste ich trotzdem schlucken.

„Ist dieses Virus wirklich so gefährlich?“, fragst du. „Warum hört man in den Medien keine abweichenden Meinungen? Woher bekomme ich unabhängige Informationen?“ Dazu hast du eine PDF-Datei angehängt: „120 Experten-Stimmen zu Corona“.

Seit Ende April kursiert diese Zitatsammlung im Netz, ein Autor ist nicht angegeben. Es geht weder um Reptilienmenschen noch um die Rothschilds. Selbst Bill Gates taucht nur einmal auf. Stattdessen: Virolog*innen, die das Coronavirus für harmlos halten. Jurist*innen, die Grundrechtseinschränkungen geißeln. Ärzt*innen, die für schnelle Durchseuchung werben. Es sind die Argumente derer, die nicht spinnen, aber die Coronamaßnahmen der Regierungen trotzdem für Wahnsinn halten.

Durchpusten statt aufpusten

Es tut mir leid, dass ich auf deine Mail erst jetzt antworte. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, die 24 Seiten komplett durchzuarbeiten: Originalquellen aufrufen, Übersetzungen einholen, Kontext lesen, vielleicht auch mal am Telefon eine Nachfrage stellen.

Ich bin gescheitert. Nach drei Tagen habe ich gerade mal die Hälfte durch. Erst am zweiten Tag ist mir aufgefallen, dass viele Zitierte mehrfach auftauchen. Eine Aussage erscheint sogar wortgleich an zwei Stellen.

Wer die Zahl der Zitierten so aufpustet, lässt die Gruppe der Kritiker*innen größer erscheinen, als sie tatsächlich ist. Durch die schiere Menge wird es fast unmöglich, alles herauszufiltern, was nicht stimmt, nicht belegt oder schlicht veraltet ist. Das Statement eines israelischen Biochemikers zum Beispiel, der Ende März sagte, er wäre überrascht, wenn sein Land am Ende mehr als zehn Coronatote zu beklagen habe. Etwa einen Monat später lag die offizielle Opferzahl bei 200. Wie viele wären es heute wohl ohne die auch in Israel sehr harten Gegenmaßnahmen?

Grautöne erlauben

Viele Aussagen finde ich sogar richtig. Das totale Demonstrationsverbot zum Beispiel, das vielerorts wochenlang galt, war nicht verhältnismäßig.

Die Datengrundlage für die geltenden Einschränkungen ist noch immer erschreckend dünn. Und ganz sicher werden nicht nur Menschen an Corona sterben, sondern auch an den Folgen der Corona-Schutzmaßnahmen.

Über all das berichten Medien übrigens seit Wochen. Sie lassen Menschen wie Boris Palmer, Juli Zeh und Julian Nida-Rümelin zu Wort kommen, die einen liberaleren Umgang mit dem Virus fordern. Journalist*innen beschränken sich allerdings nicht darauf, sondern hören weitere Stimmen, beleuchten andere Aspekte, erlauben Grautöne. Die Macher*innen deiner PDF-Datei picken sich nur das heraus, was ihre These stützt: dass das komplette Regierungshandeln Mist sei. Das ist das Gegenteil von Journalismus. Und ganz ehrlich? Das macht mich wütend.

Hinterfragen ist richtig

Manche Versuche sind besonders plump – zum Beispiel wenn die Macher*innen des PDFs Ökonom*innen zitieren, die vor wirtschaftlichen Schäden der Coronarestriktionen warnen, aber verschweigen, dass andere Ökonom*innen auch vor wirtschaftlichen Schäden einer unkontrollierten Coronaverbreitung warnen. Oder wenn eine Analyse österreichischer Wissenschaftler zitiert wird, derzufolge bei Corona die „Altersabhängigkeit“ des Sterberisikos konsistent sei „mit der des allgemeinen jährlichen Sterberisikos“. Dass die Forscher im selben Papier trotzdem „umfassende Maßnahmen“ gegen die Corona-Ausbreitung unterstützen, taucht in deinem PDF nicht auf.

Wie groß die Bedrohung tatsächlich ist? Noch kann das niemand genau sagen. Das Virus ist neu. Viele Informationen sind widersprüchlich, viele Fragen noch offen. Daraus zu schließen, dass keine der vorherrschenden Annahmen stimmen kann, fände ich aber falsch. Diese Annahmen zu hinterfragen, ist trotzdem richtig. Dass diese Ungewissheit schwer zu ertragen ist, kann ich gut verstehen. Es geht mir genauso.

Liebe Grüße. Bleib gesund!

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20 Kommentare

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  • 0G
    05838 (Profil gelöscht)

    Die einzige Quelle zu einem Ereignis, die ich als seriös akzeptiere, ist meine eigene Präsenz beim Ereignis. Alles andere ist Glaube.

    • @05838 (Profil gelöscht):

      und selbst dann hängt alles von deinem Blickwinkel ab.



      Wörtlich und im übertragenen Sinne.

      Mein Liebingsbeispiel ist immer die Konservendose ohne Etikett.



      Was ich wahrnehmen kann ist das Gewicht.



      Durch schütteln möglichereise ob der Inhalt fest oder flüssig ist.



      Mehr erlaubt mein Wahrnehmungsapparat nicht.



      Mein Hund dagen riecht dran und weiss was drin ist.

      So ists mit der Präsenz beim Ereignis auch.

      Bist du betropffen?



      Stehst du als Zuschauer*in dabei?



      Wie ist deine allgmene Situation?



      Stehen dir Dinge oder Menschen nahe?



      Wie ist dein Grundwissen in Bezug auf das Ereignis?



      Ist es überhaupt ein Ereignis oder einfach ein Erleben von (für dich ) neuem Unbekanntem?

      • 0G
        05838 (Profil gelöscht)
        @Friderike Graebert:

        Wenn man vom Hütchen zum Stöckchen kommt, dann will man ablenken.

  • Was mich betrübt, ist die Bereitschaft, über jedes Stöckchen zu springen, das irgendwo rumliegt oder einem hingehalten wird. Der Wille, sich aufzuregen, anzuklagen, wütend zu werden, sein Grosshirn abzuschalten - das ist es, was mich gelegentlich vermuten lässt, wir seien auf dem besten Wege zurück ins analoge Denken der Steinzeit.



    Am Morgen steigt die Sonne auf, scheinbar kommt sie aus der Erde - ergo: die Erde gebiert die Sonne. Und wenn's donnert, zürnt uns der Donnergott. So geht das.



    Ozonloch? Kann ich nicht sehen, gibt's nicht. Klimawandel? Kann ich nicht sehen, gibt's nicht? Ich kenne niemanden, der Covid-19 hat, hörte ich eine Dame im Fernsehinterview sagen. Ergo? Klar: gibt's nicht. Eine Beweisführung, die das Fehlen jeglichen Verstands nahelegt. Gepaart mit dem Willen zum Hass.



    Das besorgt mich zutiefst. Ach, du lieber Himmel, jetzt bin ich ein besorgter Bürger.



    Jemand fand ein im Keller ein Desinfektionsmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum 2005. Drauf stand: anwendbar gegen Corona. Yep! Das war der Beweis, alles eine Verschwörung, Corona gibt's schon lange, die haben es bloss aus dem Hut gezogen, um uns zu erschrecken und drakonische Freiheitseinschränkungen durchzusetzen. Zwischen Wahrnehmung und Schlussfolgerung kann kaum ein Intervall des Nachdenkens gelegen haben. Dass das neue Coronavirus in der Anfangsphase neues Coronavirus genannt wurde, watt? Habbich überhört. Die, die so gerne bereit sind, im Vatikan der Komplotttheorie Youtube nachzugoogeln, welche weiteren Vorwürfe sie Bill Gates wohl noch machen könnten, nehmen sich keine Sekunde Zeit, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen.



    Sie wollen hassen, wollen anklagen, wollen triumphieren: ja, ich hab's ja gleich gesagt, ich habe Recht und alle anderen sind, ruhig Attila, ruhig: Schafe.

    • @Stechpalme:

      Ja. Diesem selbstgefälligen empörungsgenöle gepaart mit kleingeistiger engstirnigkeit gehe ich auch eher aus dem Weg.



      vor allem, wenn mir das bei mir selbst auffällt... 😉

  • mich kotzen dieses einfach so wiedergegebene Halbwissen an, dieses sich gut fühlen beim gemeinsamen "riechen" von den großen Verschwörungen. Ich bin selber oft unentschieden, was ich für richtig bzw. glaubwürdig halte und was nicht, aber diese dummen Haltungen und Verbreitungen dieser ungesicherten Aussagen sind nicht zu ertragen.

  • 8G
    80198 (Profil gelöscht)

    Ich denke es wird einfach nicht zu Ende gedacht. Sich einfach auf einen Impfstoff zu verlassen, der irgendwann kommt und wirkt ist zu kurz gesprungen. Es gibt nur wenige Kritiker, die Alternativen formulieren. Das zu Beginn keine Schutzausrüstungen in Kranken und Pflegehäusern verfügbar waren ist genauso skandalös, wie Söder beim Fasching feiern. Viele harte Maßnahmen hätten verhindert werden können, wenn sofort Massenveranstaltungen verboten worden wären und strikt auf Hygienemassnahmen bestanden worden wäre. Alles andere, wie der totale lockdown muß man schon kritisch sehen. Die Politiker stellen sich als Erlöser dar und verteilen Geld. Ob das wirklich nötig war muß man bezweifeln dürfen. Und in Zukunft bitte auch mehr Gesundheitsvorsorge betreiben. Es gibt noch sehr viele, die zu jung sterben müssen, an Thrombose, Herzinfarkt, Diabetis usw.

  • Dass es in der Wissenschaft auseinandergehende bis gegensätzliche Meinungen gibt, ist normal. Insbesondere bei neuen, schwer einschätzbaren Phänomenen wie einer Virus-Pandemie. Es können Einschätzungen gemacht werden, aber alles andere als bisher Beobachtetes bleibt Spekulation. Selbst Beobachtungen brauchen Zeit zur Auswertung.



    Auch normal ist, dass Menschen unterschiedliche Meinungen haben und nach Meinungen suchen, die der eigenen am nächsten kommen.



    Was die beste Strategie im Umgang mit der Pandemie ist bzw. gewesen wäre, wird man erst später – wann immer das sein mag – sagen können. Sehr schwierig also für eine Regierung, ad hoc Entscheidungen zu treffen.



    Nach meinem Eindruck fangen derzeit immer mehr Menschen an, langsam durchzudrehen. An mir selbst beobachte ich im Lauf der Pandemie, obwohl mir das nicht gefällt, vermehrt fatalistische Tendenzen:



    Es regieren die, die von einer Mehrheit von Wahlberechtigten dazu befugt wurden. Es wurde stets Ökonomie über alles gewählt (oder von den Befugten priorisiert) und (fast) alle haben sich darin eingerichtet. Menschen lernen selten aus Fehlern, vielleicht muss alles mal kollabieren. Lasst die Menschen jetzt doch einfach mal selbst entscheiden, ob sie sich solidarisch und rücksichtsvoll verhalten oder nicht. Zwar werden dann – was ich bei einem Virus für wahrscheinlich halte und an verschiedenen Orten der Erde zu beobachten ist – viele unter die Räder kommen. Vielleicht auch ich. Wenn aber permanent wider besseres Wissen am Ast gesägt wird, auf dem man sitzt, dann passiert früher oder später das Unvermeidliche...



    M. E. ist genau jetzt die Zeit, die Weichen für eine solidarische, auf essenziell Wichtiges konzentrierte Zukunft zu stellen, wie Gesundheit, Soziales, Bildung, Kultur . Allein - es wird wohl bei der Hoffnung bleiben...

    • @HopeDrone:

      Ich hoffe mit...

      • @Sebas.tian:

        Danke, ich fühl schon nicht mehr ganz allein :-)

  • Es gibt nicht nur Schwarz und Weiss Man kann einzelne Massnahmen wie "keine Grossverantsaltungen" sinnvoll finden, aber anderes wie der totale Lockdown trotzdem vehement ablehnen. Die Bundesregierung hat innerhalb von 3 Wochen ihre Haltung zu Masken von "sind nutzlos oder sogar schädlich" zu "Busse bei Nichttragen" gewechselt. Wie soll man das noch ernst nehmen? Ich finde den Text auch nicht überzeugend,man merkt dass der Autor gar nie im Sinn hatte sich neutral mit den Argumenten auseinanderzusetzen, sondern von Anfang an irgendwelche Widersprüche aufzudecken, was ihm eher schlecht als recht gelungen ist

    • @Lutz Maximilian:

      Und jetzt? Schmollen?

    • @Lutz Maximilian:

      " Wie soll man das noch ernst nehmen?" Selbstverständlich nehme ich jemanden der auf grund von neuen Kenntnissen, geänderten Situationen etc seine Meinung/Anweisungen ändert ernst. Andersrum würde ein Schuh draus.

    • 0G
      02881 (Profil gelöscht)
      @Lutz Maximilian:

      Interessant! In Ihrem Statement kommt prompt zum Ausdruck was gerade in einem anderen aktuellen Taz-Text diskutiert wird. Weil man von den Autoritäten/Eltern enttäuscht wird nimmt man diese nicht mehr ernst oder wendet sich von Ihnen ab. @ Lutz Maximilian, schauen Sie hier mal rein: taz.de/Therapeut-u...proteste/!5686903/ .

      Noch ein Frage: "() man merkt dass der Autor gar nie im Sinn hatte sich neutral mit den Argumenten auseinanderzusetzen, ()". Woraus folgern Sie dass? Gibt's das eine bestimmte Stelle oder Formulierung im Text?

      • @02881 (Profil gelöscht):

        Entschuldigen Sie die späte Antwort. Ich meine keine bestimmte Steelle sondern der ganze, leicht höhnische, Duktus des Textes. Boris Palmer hat z.B eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen und wurde medial wie ein Unmensch dargestellt. Als ob Menschenleben nicht permanent economisiert werden. Von uns allen.

  • "es gibt Kritiker, von denen man sagen kann, dass sie keine Spinnern sind. Dennoch finden diese Leute zum großen Teil kein Gehör, sondern werden ebenso diffamiert wie Extremisten [...]"

    Hm. Erlebe ich anders. Haben Sie ein konkretes Beispiel?

  • Guter Beitrag, vielen Dank. Das Problem haben Sie auch direkt benannt: es gibt Kritiker, von denen man sagen kann, dass sie keine Spinnern sind. Dennoch finden diese Leute zum großen Teil kein Gehör, sondern werden ebenso diffamiert wie Extremisten, die die Situation für sich ausnutzen wollen. All diejenigen, die nur leise Zweifel äußern, werden in eine Ecke gestellt, die sie zu Personae non gratae macht. Diese Art der Auseinandersetzung halte ich für wirklich bedenklich, denn in einer so neuartigen Situation und bei so einem bedeutsamen Problem muss es doch eine lebhafte Debatte geben dürfen, in der um die besten Lösungen gerungen wird. Diese wird nach meiner Auffassung jedoch in einer Form unterbunden, wie ich es in dieser Art noch nicht erlebt habe. Vermutlich lässt das viele Menschen so skeptisch werden.

    • @wollewatz:

      "Diese wird nach meiner Auffassung jedoch in einer Form unterbunden, wie ich es in dieser Art noch nicht erlebt habe. "

      Wie denn?

    • @wollewatz:

      Ich nehme gern an lebhaften Debatten teil und lasse mich auch von guten Argumenten überzeugen. Allerdings erfahre ich in den Corona-Debatten vermehrt Beleidigungen.Es ist mir mehrmals in Foren und Chatrooms passiert, dass ich als blöd o.ä. bezeichnet wurde, weil ich den Einsatz von Masken befürworte. Begründet wurde das natürlich nicht (bis auf "Bringen nichts. Basta"). Ich glaube, es gibt die, die schon mitten im öffentlichen Diskurs stehen. Und es gibt die, die jammern, sie würden nicht wahrgenommen, aber nichts anderes tun als zu trollen.

    • 0G
      02881 (Profil gelöscht)
      @wollewatz:

      Da muss ich Ihnen widersprechen. Denn in den Medien und auch in den alltäglichen Diskussionen kommen vielfältigste Stimmen, Meinungen und Statements zu Wort. Hinterfragt und kritisch diskutiert werden die allesamt. @ Wollewatz, Wo, von Wem und Wie wird Ihrer Meinung nach etwas "unterbunden"? Können Sie das mit Quellen, Links, etc. belegen?