Drang nach Wahrheit in Bedrängnis: Die Herrschaft der Lüge
In der Türkei wie auch in Deutschland riskiert man mitunter Strafanzeigen, wenn man die Wahrheit schreibt. Zweifler gelten dann als Sicherheitsrisiko.
N icht der Mangel an Freiheit ist heute das dringende Problem, sondern die Abwesenheit von Wahrheit“, sagt der französische Philosoph Michel Serres in einem jüngst in der taz veröffentlichten Interview: „Wir erkennen heute, dass die Wahrheit in der gegenwärtigen Gesellschaft das grundlegende philosophische Problem ist. Wir können nicht wirklich frei sein, wenn wir nicht über wahre Informationen verfügen.“
Als ich das Interview las, musste ich unweigerlich an eine Randnotiz in den türkischen Medien denken. Die beiden Forstingenieure Ahmet Demirtaş und Salih Usta, beide aktiv in der ökologischen Bewegung, wurden zu 20 Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Sie hatten von einem Eibenbaum in der Schwarzmeerprovinz Zonguldak eine Kernprobe entnommen, sie in einem Labor der forstwissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul untersuchen lassen und schließlich in einem Fachaufsatz das Alter des Baumes auf rund 2.000 Jahre geschätzt.
Der Aufsatz wurde ihnen zum Verhängnis. Die Staatsmacht intervenierte. Die Direktion der Nationalparks stellte einen Strafantrag. Denn sie betrieb Propaganda für den Tourismus und hatte die Lüge in die Welt gesetzt, dass der Baum 4.112 Jahre alt sei und somit der älteste Eibenbaum der Welt.
Strafanzeige gegen Reporter
Wer meint, die Ereignisse seien eine türkische Absurdität in Tayyip Erdoğans politischen Regime, der irrt. Die Strafanzeige der türkischen Direktion der Nationalparks erinnert mich an die Strafanzeige der deutschen Bafin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht). Vor fast drei Jahren stellte die Bafin Strafanzeige gegen Reporter der Financial Times. Die Journalisten hatten in Artikeln den (später bestätigten) Verdacht geäußert, dass Wirecard Bilanzen gefälscht haben könnte.
Die Staatsanwaltschaft München ermittelte. Mit einem sogenannten Leerverkaufsverbot sprang die Bafin dem Unternehmen zur Seite. Und die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte sich 2019 beim chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping für Wirecard ein. Vor ihrer China-Reise war sie vom Ex-Minister und Wirecard-Lobbyisten Karl-Theodor zu Guttenberg gebrieft worden.
Wenn der Glaube an die Lüge Menschen befriedet, stellen die Zweifler ein Sicherheitsrisiko dar, und die Staatsmacht muss intervenieren. Der Drang nach Wahrheit ist Subversion. Durch ihre Zweifel wollten die türkischen Forstingenieure ebenso wie die Financial-Times-Reporter Schaden zufügen: Schaden für den türkischen Tourismus in Kollaboration mit „dunklen Kräften“, Schaden für die deutsche Wirtschaft in Kollaboration mit Spekulanten, die das deutsche Vorzeigeunternehmen in den Dreck ziehen.
Faulheit des Denkens
Es sind das Wohlbefinden und die Faulheit des Denkens, welche die Lüge stärken. Einer aktuellen Umfrage zufolge glaubt nur etwas mehr als die Hälfte der Amerikaner, dass Biden die Wahl rechtmäßig gewonnen hat. Und der Prozess gegen Elizabeth Holmes mit ihrem Start-up Theranos offenbart: Mit einer Lüge lassen sich Milliarden US-Dollar akquirieren.
Noch 2015 wählte das Time Magazin die damals 31-Jährige zu den hundert einflussreichsten Personen der Welt. Der „revolutionäre“ Bluttest des Unternehmens beruhte auf einem Fake. Heimlich wurde das entnommene Blut verdünnt auf konventionellen Blutanalysegeräten von Siemens getestet. Doch einstige US-Generäle, Außenminister und Verteidigungsminister, unter anderem der Friedensnobelpreisträger und Kriegsverbrecher Henry Kissinger, saßen im Aufsichtsrat.
Diskreditierung der Andersdenkenden
Die Lüge kann noch so absurd sein. Hauptsache, sie dient dem Zwecke des eigenen Wohlbefindens, der Selbstgefälligkeit und der Diskreditierung der Andersdenkenden. So die sadomasochistische Gewaltpornografie vom Sommer 2013 in Istanbul, auf dem Höhepunkt des Gezi-Aufstandes gegen Erdoğan.
Zehra Develioğlu, die „Schwiegertochter eines engen Freundes“ (so Erdoğan), die im Juni vor der Fähranlegestelle Kabataş ihr sechs Monate altes Baby schob, berichtete Abscheuliches in einem Zeitungsinterview.
O-Ton: „Ich fand mich unter 70–100 Männern in Schwarz mit nackten Oberkörpern und ledernen Handschuhen. Sie sagten, sie machen Revolution. Sie sagten, sie führen Erdoğan an den Galgen. Sie schlugen auf mich ein. Sie trampelten auf mir. 3–4 Männer urinierten auf mich. Eine Frau schrie: Pisst auf das Kopftuch. Als ich nach der Bewusstlosigkeit erwachte, stank ich nach Urin. Ich versuchte mein Baby zu finden.“
„Grausamkeiten“ der Aufständischen
Über mehrere Wochen bombardierten Politiker und die Medien die Öffentlichkeit mit den Grausamkeiten, die die Aufständischen einer hilflosen Frau angetan hatten. Zeitungsschreiberlinge behaupteten, sie hätten Videos über die Vorfälle gesehen. Alles, was die Frau erzähle, sei wahr. Und Abermillionen glaubten der Lüge, dass sich alles so in der Fähranlegestelle Kabataş – in etwa so frequentiert wie der Frankfurter Hauptbahnhof – zugetragen habe.
Die Lüge ist das Gebräu, das die dritte Hexe in Shakespeares Macbeth, mit dem giftigen Eibenbaum anrührt:
„Ziegengalle und Eibenreis
In des Mondes Finsternissen“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr