Philosoph Michel Serres über die Moral: „Auf wahre Information kommt es an“
Früh warnte der französische Philosoph Michel Serres vor einer Epidemie. Er benannte hellsichtig weitere Probleme, die uns heute noch beschäftigen.
Der 2019 verstorbene französische Philosoph und Naturwissenschaftler Michel Serres ist durch zahlreiche Bücher auch in Deutschland berühmt geworden. Zwei bisher unveröffentlichte Interviews, die in den Jahren 1995 und 2000 in seinem Haus in Paris-Vincennes geführt wurden, publiziert die taz exklusiv. Sie zeigen, dass er bereits damals auf Gefahren hinwies, die uns heute bedrängen. So warnte er vor über 25 Jahren davor, dass die an US-amerikanischen Universitäten entwickelte Political Correctness dazu führen wird, freies Denken in normative Gebote zu zwängen.
Wenige Jahre später sah der Naturwissenschaftler, der Mitglied der Académie française war und an der Pariser Sorbonne sowie an der kalifornischen Stanford University lehrte, den „Ausbruch einer ungeheuren Epidemie“ voraus. Das lässt daran denken, dass in gesellschaftlichen Krisen – wie in der Corona-Pandemie – Desinformationen und Verschwörungstheorien bestens gedeihen. Vehement verteidigte Michel Serres den Zugang zu wahren Informationen.
taz: In Ihren Büchern fordern Sie, von der Normalität des Humanismus wegzukommen, denn diesem liege eine Moral zugrunde, die stets nur vom weißen, männlichen, erwachsenen, heterosexuellen Europäer ausgeht. Wie würden Sie denn eine objektive Moral bestimmen, die diesen traditionellen Humanismus hinter sich lässt?
Michel Serres: Die Frage ist ungemein wichtig, denn sie ist untrennbar mit einer Bewegung verbunden, die seit einem Jahrzehnt vor allem in den Vereinigten Staaten einen außerordentlichen Einfluss hat. An den amerikanischen Universitäten hat sich eine Ideologie durchgesetzt, die die Menschen nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit unterscheidet. Diese Ideologie unterscheidet die Menschen etwa nach ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung voneinander. Allerdings sollte man das Gute dieser Ideologie nicht übersehen.
Wir werden nämlich dazu verleitet, in anthropologischer, ethnologischer und juristischer Hinsicht selbst der feinsten Unterschiede gewahr zu werden. Ich denke aber, wenn wir mit größerer Schärfe und Aufmerksamkeit die größte Verzweigung all dieser Unterschiede untersucht haben werden, können wir vermeiden, uns in Ghettos zurückzuziehen, die uns voneinander trennen. Wir können den „Krieg jeder gegen jeden“ vermeiden, der uns, wie man sieht, ans Ende dieser Ideologie führt.
am 1. September 1930 in Agen geboren, am 1. Juni 2019 in Paris gestorben. Er war Mitglied der Académie française und lehrte an der Pariser Sorbonne sowie an der kalifornischen Stanford University. Serres hatte sich, bevor er Professor für Wissenschaftsphilosophie wurde, mit einer Arbeit über Leibniz habilitiert. Zahlreiche seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Er entwickelte eine Kommunikationstheorie und galt als Strukturalist.
Schließlich müssen wir eine erneute Kraft aufbringen, um von dort aus den Versuch zu unternehmen, die Unterschiede wiederzufinden. Und zwar die Unterschiede als etwas, was uns vereinigt. Aber was ist das, was uns wieder zusammenführt? Was ist das Vereinigende? Vor allen anderen Dingen handelt es sich hier um eine Kraft in Bezug auf Rechts- und Moralfragen. Keineswegs um die von Ihnen angeführte Normalität. Stattdessen liegt diese ganze Arbeit noch vor uns. Sie erstreckt sich jenseits der Ideologie der political correctness.
Nährt nicht die Vorherrschaft digitaler Informationsmedien einen gesellschaftlichen Konformismus, den Sie in Ihrer Philosophie eigentlich vermeiden wollen? Wo bleibt dagegen die kreative Rolle von Kunst und Philosophie, die dem Konformismus widersteht?
Diese Frage liegt mir sehr am Herzen. Denn ich glaube, dass die historische Entwicklung immer mehr auf eine Gesellschaft zusteuert, die außerordentlich normativ und konventionell ist. Ich denke, dass diese Gefahr aus den vielen neuen Medien resultiert. Immer dann, wenn neue Medien auftauchen, entstehen neue Besorgnisse. In diesem Zusammenhang stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Aufgabe der Philosophie. Sie wissen, dass das Zentrum meines Denkens die Reflexion über die Information und Kommunikation ausmacht.
Ich denke, die Philosophie sollte dynamisch in der Suche nach den Formen, in der Schöpfung der Formen von morgen sein. Eine neue Verbindungslinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, die wie in der Renaissance funktionieren könnte, kann uns ermöglichen, zu einem Erfindungsgeist, einer ars inveniendi zu gelangen, die uns zu neuen Formen gelangen lässt.
Im Grunde bin ich der Auffassung, dass die Philosophie die Erfindung der Welt von morgen ist. Sie ist die Antizipation des Hauses, in dem die Menschheit morgen wohnen wird. Sie wird eine Menge lernen, aber vor allem wird sie uns behilflich sein, dieses gemeinsame Haus zu erfinden, in dem wir in Frieden wohnen werden.
Sie werden in Frankreich nicht nur als Philosoph, sondern auch als Naturwissenschaftler geachtet. Der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz gilt Ihnen als Vorbild. Unter Ihren Wissenschaftskollegen gibt es heute ein fast grenzenloses Vertrauen in die technologische Entwicklung. Ist der medizinische Fortschrittsglaube in Bezug auf die Bekämpfung und Ausrottung von Krankheiten berechtigt?
Ein solcher Fortschrittsoptimismus ist ein Irrglauben. Nach der Erfindung des Penicillins entstanden, von uns unbemerkt, ungezählte Bakterienstämme, die gegen jegliche Heilmittel resistent sind. Möglicherweise leben wir heute kurz vor dem Ausbruch einer ungeheuren Epidemie. Deswegen haben viele Biochemiker und Mediziner nicht vor den Technologien, sondern vor neuen, mutierten Bakterien Angst, die sich gegen Penicillin, Astromicin und alle Antibiotika wehren können, die noch vor Krankheiten schützen.
Gerade dieser Schutz ist heute äußerst schwach geworden. Der Schaden, den diese Bakterien anrichten, ist wesentlich größer als die Wirksamkeit unserer Gegenmittel. Wenn einige Wissenschaftler meinen, die Krankheiten in Zukunft nicht nur bekämpfen, sondern auch ausmerzen zu können, so kommt mir das äußerst optimistisch vor. Ich glaube dagegen, dass uns ein neuer bakterieller Angriff, eine neue Infektionskrankheit bevorsteht.
Fortschritt wird zumeist als technologischer Fortschritt wahrgenommen und der konfrontiert uns mit immer neuen ethischen Problemen. Teilen Sie die Ansicht, dass vor allem die Geisteswissenschaftler diese Herausforderungen annehmen, während die Naturwissenschaftler diese Probleme zu ignorieren scheinen?
Tastsache ist, dass sich heute viele Naturwissenschaftler überhaupt nicht den ethischen Problemen stellen. Sie bleiben innerhalb ihres Forschungszirkels und interessieren sich nicht für diese Probleme. Andererseits stellen die Philosophen, die ich in Frankreich kenne, Fragen zur Ethik, doch ihr Wissen reicht nicht aus, um gute Fragen zu stellen. Leider verstehen die Naturwissenschaftler nichts von der Philosophie und die Philosophen verstehen nichts von den Naturwissenschaften. Dies führt dazu, dass zwischen beiden Bereichen Unverständnis vorherrscht.
Zu dem Spiel kommt noch eine dritte Figur hinzu – nämlich die Öffentlichkeit. Die Zivilgesellschaft versteht nichts von der Wissenschaft und den ethischen Problemen, weil zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft die Medien stehen. Sie beschäftigen sich mit den Problemen, ohne Kenntnis von den Geistes- oder Naturwissenschaften zu haben. Das macht das Spiel äußerst verwickelt. Daraus könnte sich eine dramatische Situation entwickeln. Das Spiel besteht also aus vier Figuren, die sich gegenseitig nicht verstehen.
Der Ausweg kann nur darin bestehen, dass die wissenschaftliche, die gute Information im Besitz der Philosophen, der Naturwissenschaftler, der Medien und der Öffentlichkeit ist und dass jeder auf der Grundlage seines Wissens eine Ethik zu konstruieren vermag, die zugleich die Ethik aller ist. Das wäre die ideale Situation.
Allerdings sind wir von diesem Zustand weit entfernt, weil es zwischen den vier Figuren keinen Dialog gibt. Verschlimmernd kommt hinzu, dass zu dem Spiel eine fünfte Person hinzutritt – der Politiker. Eines meiner größten Anliegen besteht darin, einen Dialog zwischen diesen fünf Gesprächspartnern zu ermöglichen. Aber das ist äußerst schwierig. Denn das wirkliche Problem besteht bereits darin, dass die Information den Adressaten nicht erreicht.
Beispielsweise ist es problematisch, dass alle Medien über die genetisch veränderten Organismen berichten, als handele es sich um giftige Substanzen. Ich möchte deshalb folgendes Beispiel anführen: Eine deutsch-französische Forschungsgruppe züchtete eine Reissorte, die nach der genetischen Veränderung einen höheren Eisenanteil und einen entsprechend größeren Nährwert besitzt. Dieser Reis soll die Hungerkatastrophen in den unterentwickelten Ländern bekämpfen. Das ist eine gute, aber leider eine zu wenig verbreitete Nachricht. Deswegen möchte ich betonen: Es kommt auf die Zirkulation der wahren Information an.
Damit setzen Sie allerdings voraus, dass der Übergang von einer Informations- zu einer Wissensgesellschaft prinzipiell möglich ist. Zwar könnte man sagen, das Instrument in Gestalt des Internets ist dafür vorhanden, nur fehlt uns der richtige Umgang mit diesem Medium, um wirklich Wissen herstellen zu können.
Im Gegensatz zu den traditionellen Medien bin ich hinsichtlich des Internets, das uns prinzipiell einen freien Zugang zu allen Informationen garantiert, optimistisch. Aber ich möchte nochmals betonen, dass in einer Zeit des beschleunigten technologischen Fortschritts alles auf die Zirkulation der guten, der wahren Information ankommt.
Nicht der Mangel an Freiheit ist heute das dringende Problem, sondern die Abwesenheit von Wahrheit. Wir erkennen heute, dass die Wahrheit in der gegenwärtigen Gesellschaft das grundlegende philosophische Problem ist. Wir können nicht wirklich frei sein, wenn wir nicht über wahre Informationen verfügen.
Ich möchte gerne auf den Einfluss der neuen Technologien zurückkommen. Einerseits schien das Internet zunächst – das war die allgemeine Hoffnung – die informationelle Selbstbestimmung der Menschen zu befördern. Andererseits werden zusehends Falschinformationen und Verschwörungstheorien begünstigt. Wenn die Freiheit, wie Sie sagen, vom eigenen Willen abhängt, wie ist sie dann heute zu bestimmen?
Durch die gesellschaftlichen Veränderungen und den technologischen Wandel ist letztlich ein Ensemble von Beziehungen betroffen, innerhalb dessen wir die Freiheit jeweils neu bestimmen müssen. Nehmen wir als Beispiel das Internet: Es ist ein Ort, in dem weder Recht noch Gesetz herrscht. Daher gibt es im Internet absolute Freiheit.
Man kann heute sagen: Im Internet zu navigieren, zeugt von einer Freiheit der Informationszirkulation, die niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte erreicht wurde. Diese vollkommene Freiheit geht mit einer Reihe von Missbräuchen einher, beispielsweise mit der Verherrlichung von Gewalt und Neonazismus. Aber letztendlich ist ein Bereich entstanden, in dem mehr Freiheit als jemals zuvor existiert. Natürlich war die Freiheit eingeschränkter, als die politischen und religiösen Mächte die Gedanken und Bücher kontrollierten. Doch die Entwicklung der neuen Technologien hat die Freiheit eher vergrößert.
Und wie wird sich die Stellung der Politik angesichts der rasanten technologischen Entwicklung verändern?
Die von Politik und Technologie bislang eingenommenen Rollen haben sich total verschoben. Die technologische Entwicklung geht schneller voran als der politische Entscheidungsprozess, der seinen Einfluss auf sie kontrollieren will. Zunächst bedeutet das, dass die Politik erst im Nachhinein reagieren kann. Daraus folgt aber, ihr sind die Mittel genommen, die technologische Entwicklung zu beherrschen.
Wir berühren damit ein schwerwiegendes Problem. Denn wir erleben heute: Die neuen Technologien verändern die gesellschaftlichen Beziehungen, und sie können der politischen Repräsentation und Entscheidungsgewalt einen neuen Stellenwert verleihen. Während die Erfindung der Schrift eine Verschiebung zwischen Technik und Politik eingeleitet und zu neuen Formen der Welterkenntnis, ja sogar zur Demokratisierung beigetragen hatte, erleben wir heute, dass sich die Technologie immer mehr an die Stelle der Politik setzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt