Dolmetschen in der Arztpraxis: Das verschleppte Versprechen

Zu Regierungsantritt versprachen SPD, Grüne und FDP: Wer sich beim Arztbesuch nicht verständigen kann, wird Hilfe bekommen. Passiert ist noch nichts.

Patienten warten in einem gläsernen Warteraum, eine Ärztin in weissem Kittel schaut in den Warteraum

Wartezimmer einer Praxis der Malteser in Berlin Foto: Stefan Boness

Berlin taz | Als Matthias Marschner erfuhr, dass die Bundesregierung einen Anspruch auf Übersetzungsleistungen für Arztbesuche gesetzlich festschreiben will, war er erleichtert. „Ich hatte das Gefühl, das Thema wird endlich gesehen, hat zum ersten Mal eine Lobby“, sagt er. Der 46-Jährige arbeitet als Kardiologe in einer Berliner Praxis und hat fast täglich mit Menschen zu tun, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um Diagnosen oder Therapiepläne zu besprechen.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Grüne und FDP vorgenommen: „Sprachmittlung auch mit Hilfe digitaler Anwendungen wird im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des SGB V.“ Das war im Herbst 2021. Umgesetzt hat die Ampel das Vorhaben bis heute nicht. taz-Recherchen zufolge ist nicht sicher, ob das in dieser Legislatur noch passiert. Für Marschner ist das „erschöpfend“, sagt er, „weil wir jeden Tag mit den Problemen zu tun haben.“

Bereits seit Jahren fordern Mediziner*innen, Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen und Gesundheitsverbände ein Anrecht auf Sprachmittlung in der Sprechstunde für Menschen ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Auch wissenschaftliche Studien belegen: Wer sich beim Arztbesuch oder in der Psychotherapie nicht gut verständigen kann, kann die falsche Diagnose und im Anschluss die falsche Therapie bekommen. Oder richtig diagnostiziert und beraten werden – beides jedoch selbst falsch verstehen.

In der Folge droht Patien­t*innen, überdurchschnittlich lange nicht gesund zu werden – oder im schlimmsten Fall noch kränker als zuvor. Besonders häufig davon betroffen sind Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte. Ethisch ist das nicht zu rechtfertigen. Und auch juristisch nicht: Das Grundgesetz schreibt in Artikel 3 das Recht auf Gleichbehandlung vor. Zudem hat sich Deutschland einer ganzen Reihe internationaler Konventionen verpflichtet, unter anderem dem Abkommen zur Beseitigung jeder Form rassistischer Diskriminierung.

Weil bislang jedoch sämtliche Bundesregierungen versäumten, eine flächendeckende Lösung zu etablieren, hat sich ein System des sogenannten „Gelegenheitsdolmetschens“ entwickelt: In vielen Praxen und Kliniken übernehmen Lai*­in­nen notgedrungen und oft unbezahlt Arbeit, die eigentlich Profis machen müssten.

Nur eine Notlösung

In Marschners Praxis brächten nichtdeutschsprachige Menschen oft Familienangehörige mit in die Sprechstunde, sagt er. Das sei zwar besser als keine Übersetzung und funktioniere in Erstgesprächen nicht schlecht. Allerdings sei es für viele Menschen sehr belastend, ihren Angehörigen schwere Diagnosen zu übermitteln.

Zudem fehle es Lai*­in­nen häufig an den richtigen Begriffen zum Thema: „Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind oft hochkomplexe medizinische Sachverhalte. Sie in Alltagssprache zu übersetzen, fällt mir selbst bei deutschsprachigen Pa­ti­en­t*in­nen nicht immer leicht“, sagt Marschner.

Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hält in einer Stellungnahme fest, Gelegenheitsdolmetschen sei nicht praktikabel. Besonders bei Tabuthemen wie Sexualität oder der Therapie traumatischer Erlebnisse könne es hinderlich sein, wenn Angehörige oder andere ungeschulte Menschen sprachliche Brücken bauen müssten.

Professionelle Übersetzungen bieten nur wenige Gesundheitseinrichtungen an. Oft ist die Kostenfrage ungeklärt. Auf eigene Rechnung können sich das nicht viele Pa­ti­en­t*in­nen leisten. Und auch die Kalkulationen von Kliniken und Praxen sind dafür häufig zu eng.

Länder sind keine Lösung

Einige Bundesländer haben mittlerweile Budgets für professionelle Sprachmittlung geschaffen. Doch die Landesmittel sind freiwillige Leistungen. Aus politischen oder finanziellen Motiven können die Länder sie jederzeit streichen. Für Dol­met­sche­r*in­nen und Organisationen, die Übersetzungsleistungen anbieten, ist das eine Zumutung. Sie können nicht sinnvoll planen und müssen bei Haushaltsverhandlungen um ihre wirtschaftliche Existenz bangen.

Der Mangel an professioneller Sprachmittlung verschärft auch die Versorgungssituation für psychisch belastete Geflüchtete. Nur vier Prozent können die psychosoziale Hilfe in Anspruch nehmen, die sie brauchen. Die bundesweiten psychosozialen Zentren, die Betroffene von Flucht, Folter und Vertreibung unterstützen, sind akut ausgelastet, auch weil Geflüchtete kaum Zugang zur therapeutischen Regelversorgung haben. Dort fehlen neben fluchtspezifischem Know-how vor allem: Sprachmittler*innen.

Bereits Ende 2022 drängte ein Bündnis aus Übersetzungsorganisationen, Gesundheitsverbänden und unter anderem der Charité Berlin in einem Positionspapier auf eine schnelle Umsetzung und unterbreitete der Ampel-Koalition konkrete praxisbezogene Vorschläge.

Im Frühjahr 2023 initiierte die Linkspartei eine Anhörung zum Thema im Gesundheitsausschuss, wies erneut auf die Notwendigkeit einer schnellen Lösung hin und machte Lücken des bestehenden Vorhabens deutlich: Auch deutschsprachige Menschen sollten Übersetzungen in Leichte Sprache bekommen können, wenn sie diese benötigen.

Zudem müsse der Anspruch auf Sprachmittlung auch für Menschen gelten, die das Asylbewerberleistungsgesetz aus der Regelversorgung ausschließt. Wenn sie überhaupt eine gesundheitliche Behandlung in Anspruch nehmen können, müssen sie bislang einen gesonderten Antrag auf Sprachmittlung stellen.

Kostenfrage umstritten

Seither hat sich nichts bewegt. Ein Hindernis ist die ungeklärte Finanzierungsfrage. Der Mainzer Professor für Interkulturelle Kommunikation Bernd Meyer schätzt, dass mit einem gesetzlichen Anspruch auf Sprachmittlung in Deutschland jährlich bis zu eine Million Übersetzungsdienste anfallen und mehr als 60 Millionen Euro Kosten entstehen würden.

Geht es nach Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), sollen die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) diese Kosten tragen. Die Kassen sehen Sprachmittlung jedoch nicht als Versicherungsleistung, sondern als gesellschaftliche Aufgabe. Die Bundesregierung solle sich also um die Finanzierung kümmern, schreibt der GKV-Spitzenverband. Im Entwurf des Bundeshaushalts 2025 ist das aktuell nicht vorgesehen.

Ein weiteres Problem: Beschlossen werden soll das Gesetzes­vorhaben zur Sprachmittlung als Teil eines umfassenderen Pakets, dem Versorgungsgesetz II. Zuvor möchte das Gesundheitsministerium jedoch ein Versorgungsgesetz I beschließen. Das soll Hausarztpraxen finanziell entlasten und die psychotherapeutische Versorgung verbessern.

Nachdem die FDP dieses Paket lange ausgebremst hatte, weil es ihr zu teuer war, ist es erst Ende Juni 2024 – mit mehr als einem Jahr Verspätung – zum finalen Gesetzgebungsverfahren in den Bundestag gelangt. Dieser tagt jedoch erst wieder ab nächster Woche. Um das Versorgungsgesetz II danach und noch vor der nächsten Bundestagswahl durchs Parlament – und so das Anrecht auf Sprachmittlung ins Sozialgesetz – zu bringen, bleibt also nur noch etwa ein Jahr Zeit.

„Farbe bekennen“

Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Tino Sorge, sagte auf Anfrage der taz, er fordere die Ampelkoalition auf, „Farbe zu bekennen, ob sie das in ihrem Koalitionsvertrag festgeschriebene Vorhaben in der verbleibenden Zeit der Legislatur noch umsetzen will“. Andrew Ullmann, FDP-Sprecher für Gesundheit, vermied dieses Bekenntnis. Er antwortete der taz nicht.

Die Grünen Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink sagt, ihre Fraktion stehe weiterhin zur im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarung. Sprachmittlung spiele „eine zentrale Rolle für eine gute Gesundheitsversorgung in unserer Einwanderungsgesellschaft“, so Klein-Schmeink. Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, sagt, das Vorhaben sei ihrer Fraktion sehr wichtig und die Umsetzung in Planung. Einen konkreten Zeitplan für die Umsetzung kann aber auch sie nicht nennen.

Für Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linken, müssen den Worten auch Taten folgen: „Von Ankündigungen allein verbessert sich die Versorgungssituation für die Pa­ti­en­t*in­nen nicht“, sagt sie. Kompetente Sprachmittlung sei für eine adäquate, gleichberechtigte Teilhabe an einer menschenwürdigen gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung unerlässlich. „Sie darf nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden“, so Vogler.

Der Berliner Kardiologe Matthias Marschner lässt sich trotz der Verzögerungen nicht entmutigen. „Wir bleiben hartnäckig und fragen immer weiter“, sagt er. Im Mai legte er zusammen mit Kol­le­g*in­nen der Ärzte­kammern Berlin und Baden-Württemberg dem Bundesärzte­tag einen Antrag vor. Darin wird der Vorstand der Bundesärztekammer aufgefordert, der Bundesregierung in Zukunft Druck in Sachen Sprachmittlung zu machen.

Eine große Mehrheit der anwesenden Ärz­t*in­nen stimmte dem Antrag zu. Ob die Bundesärztekammer dem Antrag nachgehen wird, ließ sie auf Anfrage der taz unbeantwortet.

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