Dokumentarfilm „Vaters Garten“: Kästchen für alles
Peter Liechti bleibt beim Unter-die-Lupe-Nehmen des Kleinbürgertums persönlich: In „Vaters Garten“ filmt er seine Eltern und zwei Plüschhasen.
An Filmhochschulen ist es gang und gäbe, dass Studierende Dokumentarfilme über ihre eigene Familie drehen. Läuft die Sache gut, ist der rite de passage ins Erwachsenenalter zweifach besiegelt.
Während der Dreharbeiten lernen die Filmemacher, besser zu verstehen, woher sie kommen und wer sie sind, und zu diesem therapeutischen Effekt gesellt sich im Glücksfall ein gelungener Diplomfilm.
Schon lange im Geschäft dagegen ist der Schweizer Filmemacher Peter Liechti. Er hat, um nur wenige Beispiele zu nennen, aus dem Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, den Film „Hans im Glück“ gewonnen (2004). Sein Experimentalfilm „The Sound of Insects“ (2009) greift die wahre Geschichte eines Japaners auf, der sich mit der Absicht in den Wald zurückzog, dort zu verhungern (und dies dann auch tat, wobei er in einem Notizbuch akribisch verzeichnete, was er erlebte).
„Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern". Regie: Peter Liechti, Dokumentarfilm, Schweiz 2013, 93 Min.
Mit 62 Jahren ist Liechti zudem in einem Alter, in dem Studienabschluss und Eintritt ins Erwachsenenalter lange zurückliegen. Gleichwohl hat er nun einen Film – und was für einen Film! – mit seinen und über seine Eltern gedreht: „Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern“.
Fauchendes Bügeleisen
Liechtis Eltern gehen auf die 90 zu, seit mehr als sechs Jahrzehnten sind sie verheiratet, sie haben neben dem Sohn ein weiteres Kind, eine Tochter. Durch die großen Fenster ihrer Etagenwohnung in St. Gallen geht der Blick über Häuser und Hügel. Materieller Mangel herrscht nicht, auch wenn die Erinnerung daran sich manchmal bemerkbar macht, etwa dann, wenn Banknoten säuberlich eingeteilt werden. Es gibt ein Kästchen für Versicherungen, ein Kästchen für Geschenke, ein Kästchen für Kleidung.
Man sieht, wie die beiden auf dem Sofa oder am Esstisch sitzen, wie sie Mahlzeiten zubereiten – in einer großartigen Sequenz montiert Liechti Bilder von Braten, Eisbein und Wurst in dichter Folge aneinander. Einmal geht der Vater zum Friseur, um sich den Nacken ausrasieren zu lassen, dann wieder harkt er die Beete im Garten. Die Mutter liegt oft auf dem Sofa und döst.
Einmal geht sie durch einen Supermarkt, der viel zu groß für ihre alten Beine ist. Oder sie bügelt die Hemden des Vaters, der großen Wert auf eine ordentliche Erscheinung legt. Das Dampfbügeleisen faucht auf der Tonspur und fährt gefährlich nah an die Kamera heran.
Wer nun denkt, das sei zu banal, als dass es einen Film füllte, der irrt. Je tiefer man ins Gewebe des Alltags eindringt, umso merkwürdigere Dinge kommen zum Vorschein. Und Liechti geht so beharrlich ans Werk, dass er den kleinbürgerlichen Normalzustand dort zu fassen bekommt, wo er rissig wird, wo das Unheimliche im Heimeligen aufscheint. Sobald er mit seiner Kamera an eine Grenze stößt, entscheidet er sich für einen frappierend plausiblen Kunstgriff: An die Stelle der dokumentarischen Szenen tritt die schwarz verhangene Bühne eines Handpuppenstudios, darin agieren zwei Hasen aus Plüsch.
Mutters eigenes Konto
Das akkurat gebügelte Hemd des Vaters und die Schürze der Mutter weisen die Hasen als die Personen aus, die man aus dem übrigen Film kennt. Sie sprechen nicht länger Schweizer-, sondern Hochdeutsch, die Stimmen sind andere, aber die Sätze, die sie sagen, sind original. Und die Verzagtheit des kleinbürgerlichen Lebensentwurfs, den Liechtis Eltern haben, passt gut zur Verzagtheit, die man Hasen zuschreibt.
Auch Liechti taucht als Handpuppe auf, in Menschengestalt, in Augenblicken, in denen es besonders arg zugeht. Dann rastet das Handpuppen-Alter-Ego zu den dissonanten Kompositionen des Schweizer Musikers Dominik Blum aus, indem es wild den Kopf gegen eine Tischplatte schlägt.
Was wohl jeder andere auch täte. Denn vieles von dem, was die Eltern erzählen, macht perplex. Der Vater hängt einer so traditionellen Vorstellung von Rollenverteilung an, dass er noch immer zornig wird, wenn er davon spricht, wie sich die Mutter ein eigenes Konto eingerichtet hat. Das sei doch gar nicht ihr Geld, ereifert er sich, er habe doch für sie in die Rentenkasse eingezahlt. Hinzu kommt das Bemühen, den Schein zu wahren, koste es, was es wolle. Einfache Erleichterungen des Alltags werden verworfen.
Obwohl es der Mutter hülfe, über der Badewanne einen Griff anzubringen, weigert sich der Vater kategorisch, weil er, wie er sagt, für die paar Jahre, die noch bleiben, keine Löcher in die Fliesen bohren mag. Was sollen denn die, die nach ihnen in die Wohnung einziehen, denken, wenn die Fliesen nicht intakt sind. In einer Szene geht es um die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Vater erzählt, wie er damals an der Grenze patrouillierte, weil er verhindern wollte, dass Flüchtlinge aus Deutschland in die Schweiz hineingelangten. Ob er von den Konzentrationslagern der Nazis gewusst habe, fragt Liechti aus dem Off. Ja, sagt der Vater, das habe er wohl.
Inbrünstiges Gebet
Die Mutter wiederum hat einen Hang zur Depression, dem sie beikommt, indem sie sich in übersteigerte Religiosität flüchtet. Was in der Szene gipfelt, in der Liechti seine Schwester und seine Mutter beim inbrünstigen Gebet filmt. Er fragt, ob sie ans Paradies glauben. Ja, sagen Mutter und Schwester. Ob sie glauben, dass sie nach ihrem Tod ins Paradies kommen? Ja, sagen Mutter und Schwester. Was sie denken, wohin er nach seinem Tod kommt? Die Pause, die auf diese Frage folgt, ist ein schaurig-großartiger Moment für den Film und ein ziemlich bitterer für die Familie Liechti.
Doch bevor man es sich allzu gemütlich macht in der Perplexität, bevor man sich wohligem Grusel über so viel geistige Enge und Kleinbürgerstarrsinn überlässt, kommt es zu einer raffinierten Verschiebung. Liechti liefert seine Eltern nicht ans Messer, er gibt sie nicht unserem Blick oder gar unserem Bedürfnis, uns auf Kosten anderer weltoffen zu wähnen, preis, er macht vielmehr – nicht zuletzt, indem er ihren leisen Widerstand gegen das Gefilmtwerden filmt – anschaulich, dass diese beiden Menschen ernst zu nehmen sind: mit ihren aus der Zeit gefallenen Wertvorstellungen, ihren Verblendungen, ihrem Kleinkrieg, aber auch mit ihrem Zusammenhalt und einer Zuneigung, die Alltag und Zeitläufte überstanden hat.
In einer der letzten Einstellungen setzt sich der Regisseur, sonst nur in Gestalt der Handpuppe oder als Stimme aus dem Off präsent, an der Seite seines Vaters ins Bild, in einer komplizierten Anordnung: Liechti taucht samt seiner Kamera in der linken Hälfte des Badezimmerspiegels auf, der Vater in der rechten. In diesem Bild sind Nähe und Distanz zu gleichen Teilen enthalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin