Dokumentarfilm „SeaWatch3“: Flüchtlingsdrama in Kinoästhetik
Der Dokumentarfilm über die Seenotretterin Carola Rackete berichtet kaum Neues. Dennoch schafft er etwas, was den Medien sonst nicht gelingt.
Die Kamera schwebt in der Vogelperspektive über das Mittelmeer, eine scheinbar endlose Ebene aus dunklem Blau. Kein Land ist zu sehen, kein Schiff. Wolken ballen sich über dem Wasser und werfen dunkle Schatten. Elektronische Musik beginnt zu spielen. Wie aus weiter Ferne hören wir Rufe und Schreie, Radiostimmen berichten auf Englisch, Deutsch und Arabisch von Toten im Mittelmeer. Die Musik wird immer drängender. Wir spüren: Gleich wird etwas geschehen. Dann ein Schnitt und wir befinden uns an Bord des Schiffes. Durch ein Fenster sehen wir die Kapitänin Carola Rackete, die aufs Meer hinaus schaut. Das Drama beginnt.
Seit einigen Tagen ist der Dokumentarfilm „SeaWatch3“ in der ARD-Mediathek zu sehen. 21 Tage lang hatten die Journalist:innen Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg dafür die Rettungsmission des Schiffes mit der Kamera begleitet, vom Auslaufen bis zur Festnahme der Kapitänin Rackete. Das Ergebnis: eine Reportage in der Ästhetik eines Kinofilms. Bilder, die eine große Geschichte erzählen.
Der Komponist Nils Frahm hat eigens dafür einen Soundtrack geschrieben. Kein Sprecher ordnet die Szenen ein, keine Zahlen ergänzen die Aufnahmen. Der Film soll nichts mehr erklären, sondern ein Gefühl vermitteln. Das Sterben im Mittelmeer, es ist im Kinosaal angekommen. Aber gehört es überhaupt dorthin?
Die humanitäre Krise im Mittelmeer ist vielleicht eine der größten Herausforderungen Europas dieser Zeit. Seit Jahren schon sterben Zehntausende Menschen vor den europäischen Küsten – und eine Lösung dafür ist nicht abzusehen. Wie können Medien sinnvoll über ein Drama berichten, das längst zur Normalität geworden ist?
Die reinen Zahlen reichen nicht
141.472 Menschen sind im Jahr 2018 über das Mittelmeer geflüchtet, mehr als 2.300 Menschen starben bei dem Versuch, Europas Küste zu erreichen oder gelten bis heute als vermisst. Seit Anfang des Jahres haben etwa 13.000 Menschen versucht, von Libyen aus übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die Hälfte von ihnen wurde von der Libyschen Küstenwache abgefangen und zurück an Land gebracht.
In Libyen, das berichten Menschenrechtsorganisationen, werden Geflüchtete misshandelt und verkauft. Jeden Tag, schreibt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, sterben im Durchschnitt vier Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer. Man könnte meinen, diese Zahlen würden ausreichen, um die Katastrophe zu beschreiben.
Denn es gibt bereits alle erdenklichen Bilder dazu. Jahrelang sind Reporter:innen von Zeitungen und Fernsehsendern mit aufs Mittelmeer gefahren, haben Porträts über die Retter:innen geschrieben und berührende Filme über dramatische Manöver der Rettungsschiffe gedreht. Im Juli 2016: „7 Tage … mit Seenotrettern“, NDR. Im August 2016: „Am Limit – Zeugen der Katastrophe im Mittelmeer“, RTL. Im Februar 2017: „Flüchtlingsretter auf der Todesroute: S.O.S. im Mittelmeer“, Focus TV. Die Filme und Texte sind alle online zu finden, seit Jahren hat sich an der Situation trotzdem nur wenig verändert.
Immer sind die Kameraleute nah dran an den Retter:innen, rennen mit ihnen über Deck, halten drauf, wenn sie die geflüchteten Menschen von ihren winzigen Schlauchbooten an das sichere Deck des Schiffes hieven. Sie filmen, wie die Schiffe aus den Häfen auslaufen, wie sie auf Funksprüche wartend im Mittelmeer treiben und wie sie dann losfahren, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten.
Die Kameras zeigen erschöpfte Menschen, die gerade dem Tod entronnen sind und zoomen ganz nah ran an ihre Gesichter, die gezeichnet sind von Folter und Entbehrung, filmen ihre Augen, die Schreckliches gesehen haben. Doch wie viel ist daran noch legitime Berichterstattung und wie viel befriedigt eigentlich nur den Voyeurismus der Zuschauer:innen, die noch krassere Bilder wollen und noch mehr Dramatik?
Als der Film „SeaWatch3“ am vergangenen Wochenende als Preview im Babylon-Kino in Berlin gezeigt wurde, gab es nach der Vorstellung Standing Ovations. Die Vorstellung war doppelt ausverkauft, mehr als tausend Menschen sahen den Film an diesem Abend. Ein Mann aus dem Publikum meldete sich und fragte die Filmemacher:innen: „An welchem Punkt habt ihr gemerkt, dass das eine ganz große Geschichte wird?“ Eine gute Frage. Denn es mussten einige Faktoren zusammenkommen, die diesen Film zu etwas Besonderem machen.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen veröffentlichte im Frühjahr dieses Jahres seine Zahlen zu den Toten auf dem Mittelmeer. In der medialen Öffentlichkeit gab es nur wenig Interesse. Was außerdem unterging: Fast zeitgleich zog die Europäische Union ihr letztes Boot aus der staatlichen Seenotrettung zurück. Die „Mission Sophia“ würde künftig nur noch von der Luft aus das Mittelmeer beobachten.
Nur wenige Wochen darauf wurde das Rettungsschiff „Mare Jonio“ der Organisation Mediterranea von der italienischen Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und die Crew des Menschenhandels beschuldigt. Das bedeutet: Im Mai 2019 gab es praktisch keine europäische Rettungsmission mehr auf dem Mittelmeer.
Am 6. Juni 2019 gehen die Journalisten Schreijäg und Kailouli für den NDR an Bord der „Sea-Watch 3“. Wochenlang hatten sie mit ihrer Redaktion darum gerungen, nach Sizilien geschickt zu werden, um mit dem Rettungsschiff aufs Mittelmeer fahren zu dürfen. Schreijäg sagt heute: „Dadurch, dass keine Schiffe mehr zum Retten aufs Mittelmeer gefahren sind, hatte auch das mediale Interesse extrem abgenommen.“ Keine Schiffe, keine Journalisten. Das Argument lautete: Diese Geschichte wurde doch schon dutzend Mal erzählt.
Doch dann veränderte sich die politische Situation: Matteo Salvini war seit einigen Monaten Innenminister von Italien, er verschärfte seinen Kurs gegen die zivile Seenotrettung immer weiter. Irgendwann ist klar: Wer aufs Mittelmeer fährt, um Menschen auf der Flucht zu retten, der gerät in Konflikt mit den italienischen Behörden. Nun ist ein Spin da, die beiden Journalist:innen dürfen nach Italien reisen. Rackete gegen Salvini, die junge Kapitänin gegen den mächtigen Staatsmann – es ist die Story für einen Hollywood-Film.
Die Zahlen zum Sterben im Mittelmeer auf der einen und der Dokumentarfilm auf der anderen Seite – sie umfassen die ganze Spannweite der möglichen Berichterstattung. Das Problem an den Zahlen ist: Sie reichen offensichtlich nicht aus.
Nähe zu Geflüchteten
Das Sterben im Mittelmeer ist eine permanente Katastrophe. Wie ein ständiger Bass wummert es durch die Nachrichten: „Mindestens 13 Menschen vor Lampedusa ertrunken“, „Ertrunken auf der Flucht“, „Sieben Flüchtlinge ertrunken“. Wie lange kann man sich von solchen Schlagzeilen berühren lassen, wann beginnt man abzustumpfen?
„SeaWatch3“, in der NDR-Mediathek
Der Dokumentarfilm „SeaWatch3“ geht deshalb einen Schritt weiter: Es ist kein Bericht mehr, sondern eine Erzählung. Und in seiner Länge schafft er etwas, was in den Berichten bisher fehlt. Er stellt eine Nähe zu den geflüchteten Menschen an Bord her. Der Film nimmt sich Zeit, sie sprechen zu lassen.
Sie erzählen von der Flucht, von der Folter in Libyen und von dem verzweifelten Versuch mit einem Schlauchboot über das Mittelmeer zu fahren. Sie sind die Zeitzeugen des europäischen Dramas und ihre Gesichter, leinwandgroß, wirken wie ein Mahnmal. Sie sind auch so etwas wie eine Antwort auf den Vorwurf des Voyeurismus. Man will nicht in diese Gesichter schauen, aber man muss sie aushalten. Sie sind nicht leidend, sie sind anklagend.
Es wird keinen zweiten Film dieser Art geben, weil hier alles zusammengepasst hatte. Nur durch einen Zufall wurde Rackete zur Ikone im Streit um Migration, nur durch Zufall waren die Reporter:innen von Beginn an Bord des Schiffes. Und nur über die Geschichte von Rackete können die Filmemacher:innen von der wahren Tragödie erzählen, von den flüchtenden Menschen. Deshalb braucht es den Film in genau dieser Form: in Kinoästhetik. Mit seiner Bildgewalt kann er die Gesellschaft berühren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind