40 Jahre AG Dokumentarfilm: Mehr als Journalismus mit Bildern

Die AG Dok verabschiedet zum Jubiläum den langjährigen Chef Thomas Frickel. Ihr Verhältnis zu den Öffentlich-Rechtlichen bleibt angespannt.

Thomas Frickel bei seienr Verabschiedung auf der Bühne

Thomas Frickel gibt den Posten des Chefdokumentarlobbyisten nach 34 Jahren ab Foto: Amin Akhtar

Der wunderbare Film „Deckname Dennis“ aus dem Jahr 1997 hält Deutschland den Spiegel vor. Ein amerikanischer Geheimagent reist als Reporter getarnt durchs schon ein paar Jahre wiedervereinigte Land. Seine Mission: dahin zu gehen, wo es wehtut, und herauszufinden, wie das neue Deutschland tickt. Es tickt laut, mit Reichsbürgern an der Neiße in Görlitz, die eigene Pässe drucken, und Verschwörungstheoretikern aller Couleur. Der Chef der deutschen Autofahrerpartei erklärt die Fahrverbote im alten Westen während der Ölkrise der 1970er: „Da durfte keiner fahren, da war ganz Deutschland ein riesiges KZ“. Dazu kam jede Menge engstirnig-kleinbürgerliche Befindlichkeit. Nur die AfD war noch nicht da. Doch „Deckname Dennis“ macht heute klar: Sie lag in der Luft.

Thomas Frickel ist immer ein bisschen stolz, wenn man ihn auf diesen Film anspricht. Und auf den Nachfolgefilm, die „Mondverschwörung“. Dokumentarfilme sind ein hartes Geschäft in Deutschland, selbst wenn es sich um wegweisend-hinreißende Mockumentarys handelt. Wahrscheinlich weiß das keiner so gut wie Frickel, der 34 Jahre lang die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm angeführt hat.

Die AG Dok ist, so sagte es die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, die „hochgeschätzte und hochgefürchtete Lobby des Dokumentarfilms“. 1980 wurde sie gegründet, und als Ende Februar der 40. Geburtstag am Rande der Berlinale gefeiert wurde, war zu besichtigen, was aus dem kleinen radikalen Haufen von damals geworden ist: eine schlagkräftige, einflussreiche, aber immer noch basisorientierte Truppe, die nebenbei der größte Branchenverband im zweitgrößten Fernsehmarkt der Welt ist.

Und alle waren sie gekommen zur Feier in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin: neben Grütters auch Bernd Neumann, ihr Vorgänger als Kulturstaatsminister, der heute Chef der Filmförderung des Bundes ist; die Präsidentin der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel; Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung; Thomas Negele von der SPIO, der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft. Bloß Programmdirektor*innen und Intendant*innen suchte man vergeblich, was bemerkenswert ist. Immerhin hatte die ARD-Filmintendantin Karola Wille der Veranstaltung eine Videobotschaft geschickt.

Sendeplatz als Preis

„Das Fernsehen hat den Dokumentarfilm zum bebilderten Journalismus degradiert, für das Kommerzkino ist er erst recht nicht existent“, stand schon im September 1980 im Gründungsaufruf der AG Dok. Dass sich daran nicht genug geändert hat, hatte man einen Abend vorher bei „Top of the Docs“ besichtigen können. So heißt (noch) der ARD-Dokumentarfilmpreis, dessen Sieger*in auch 2020 wieder bei der Berlinale präsentiert wurde. Hier waren auch Intendant*innen da, auch wenn bei „Top of the Docs“ nur fünf von neun ARD-Anstalten (BR, MDR, NDR, RBB und WDR) mitziehen.

Bei „Top of the Docs“ werden Stoffideen eingereicht, als Preis winken 250.000 Euro für die Produktion und einer der raren Sendeplätze im Ersten. Gewonnen hat in diesem Jahr „Aufschrei der Jugend“. Katrin Löschburg und Kathrin Pitterling begleiten für ihren Film zwölf Berliner Jugendliche, die sich bei Fridays for Future engagieren. Das geht völlig in Ordnung, genauso wie die Rede von RBB-Intendantin Patricia Schlesinger: „Nichts öffnet unser Bewusstsein für anderes Leben, fremde Selbstverständlichkeiten und die beglückende Vielfalt auf dieser Erde so sinnlich und hintergründig wie der Dokumentarfilm. Nichts brauchen wir in diesen Zeiten dringender“, sagte sie.

Leider ist nicht sie Programmdirektorin des Ersten, sondern Volker Herres. Und der entwertete denn auch routiniert-lässig Schlesingers Bekenntnis: „Das Erste ist ein Hauptprogramm, das sich behaupten muss.“ Er ließe sich den Naturfilm nicht kleinreden, antwortete er auf die Frage, ob in diesen Zeiten andere Stoffe im Dokumentarfilm nicht wichtiger seien als schöne Flüsse von oben. Und er war dann bei der Vorstellung der Themenwoche 2020 gleich wieder bei seinem Lieblingsgenre, dem Dokudrama. Dem traut der noch bis 2021 amtierende oberste Programmmacher der ARD nämlich mehr zu, das heißt: Quote.

Dabei ist die ARD – neben Arte – noch das Eldorado für den Dokumentarfilm, was zähneknirschend auch die AG Dok zugibt. Im ZDF gibt es, mit Ausnahme des „Kleinen Fernsehspiels“, nicht mal mehr einen Sendeplatz für diese lange Kunst- und Kulturform. Im Filmförderkanon von Bund und Ländern ist die Förderung des Dokumentarfilms dank beharrlicher Lobbyarbeit der AG Dok mittlerweile fest verankert.

Größte Nervensäge der Öffis

Jahr für Jahr werden immer mehr lange Dokumentarfilme produziert. Und angesichts der schleppenden Kino-Auswertung ist die Frage, wer das alles sehen soll, nicht völlig unberechtigt. ­Frickel und Co fordern denn auch, dass sich in Sachen Werbung, Marketing und Vertrieb etwas ändern muss. Auch wenn das Kino für viele Macher*innen weiterhin Hort und Herz des Dokumentarfilms ist: Das Fernsehen mit seinen Mediatheken bleibt wichtig dafür, dass dokumentarische Stoffe beim Publikum ankommen. Das wissen auch ­Frickel und die ihm im AG-Dok-Vorstand nachfolgende Doppelspitze.

Bei der Mitgliederversammlung wurden Susanne Binninger („Reine Männersache“) und David Bernet („Democracy – im Rausch der Daten“) gewählt. Damit hat sich bei der AG Dok der Realo-Flügel durchgesetzt. Trotzdem muss die Organisation in bester Manier bleiben, was Grütters Thomas Frickel als Markenzeichen ans Revers heftete: Er sei die „größte Nervensäge des öffentlich-rechtlichen Systems“, sagte die Staatsministerin.

Die neuen Vorsitzenden, die schon eine ganze Weile dabei sind, können nahtlos daran anschließen: knallhart in der Sache, verbindlich im Ton. Kaum ein Verband beherrscht das „Good Cop, Bad Cop“-Spiel so wie die AG Dok. Dass Fortschritt gerade im öffentlich-rechtlichen System Millimeterarbeit ist, schreckt keine Filmemacher*innen ab, die daran gewöhnt sind, jahrelang Geld für Projekte zu sammeln, diese dann in avantgardistischer Selbstausbeutung umzusetzen. Mit ein bisschen Symbolpolitik ist es jedenfalls nicht getan.

Denn die ARD schafft es seit Jahren nicht einmal, einen einzigen weiteren Sendeplatz im Ersten für den langen Dokumentarfilm verlässlich bereitzustellen, vom ZDF ganz zu schweigen. Deshalb klagte bei der AG-Dok-Feier auch die Politikerin: Mit Dokumentarfilmen lasse sich „genau das Qualitätsversprechen einlösen, das an das Privileg der Rundfunkfinanzierung geknüpft ist“, sagte Grütters; es sei ein Skandal, dass die wenigen Filme dann verlässlich zu nachtschlafender Zeit liefen. Und ihr Vorgänger Neumann sekundierte, es sei „in keiner Weise akzeptabel“, dass die ARD laut ihrem eigenen Produzentenbericht gerade einmal 0,78 Prozent ihres Finanzvolumens in dokumentarische Auftragsproduktionen investiere. Intendant*innen wussten also, warum sie nicht kamen.

„Deckname Dennis“ endet übrigens damit, dass der Reporter-Geheimagent mit einem Gartenzwerg unterm Arm darüber sinniert, dass nun wohl „das Zeitalter des Gartenzwergs beginnt“. Die AG Dok wird nervensägend dafür sorgen, dass es nicht so weit kommt.

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