Dokumentarfilm „Aus dem Rahmen gefallen“: „Ich denke in Essen“

Mit „Aus dem Rahmen gefallen“ stellt die Hamburger Ernährungsberatungsstelle „Waage“ einen Therapieansatz für das Krankheitsbild Binge Eating vor.

Frido sitzt in einer Werkstatt für Bilderrahmen.

Baut einen Rahmen mit Kratzern: Frido in der Dokumentation „Aus dem Rahmen gefallen“ Foto: Rakete Bildproduktion

Der Rahmen ist eine starke Metapher für die Bedingungen der menschlichen Existenz. In welchem Rahmen wir leben, das definiert uns; er kann uns Schutz geben – aber auch einengen. Der Rahmen symbolisiert die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.

Da könnte es doch sowohl erhellend wie auch heilsam sein, wenn Menschen sich einmal ihre Rahmen selbst bauen, oder? Genau diese Idee spielt der Film „Aus dem Rahmen gefallen“ durch, den die Filmemacherin Lena Kupatz im Auftrag des Hamburger Fachzentrums für Essstörungen „Waage e. V.“ inszeniert hat.

In dem Film soll auch das Krankheitsbild des „Binge Eating“ vorgestellt werden, also exzessives, übermäßiges Essen. Diese zwar häufigste Essstörung ist sehr viel weniger bekannt als Magersucht und Bulimie. Wer an der Störung leidet, stopft regelmäßig sehr schnell sehr viel Nahrung in sich hinein; das Ergebnis ist oft – aber nicht immer – Übergewicht.

„Ich denke in Essen“, sagt etwa Friedo, trans Binge Eater mit unauffälligen, also der Norm entsprechenden Maßen. Friedo, der schon mal in wenigen Minuten „zwei Laibe Brot und zwei Gläser Nutella“ verschlingt, ist im Film ei­ne*r von drei Erkrankten: Sie erzählen von ihrer Essstörung – und sie werden dabei gezeigt, wie sie Rahmen zu bauen lernen, die zu ihnen passen.

„Aus dem Rahmen gefallen“ Regie: Lena Kupatz, Deutschland 2022, 60 Minuten. Der Film läuft am Mo, 7. 11., um 18 Uhr im Abaton-Kino in Hamburg

Denn das ist das Besondere: Einen Tag lang haben Daphne, Jessica und Friedo im Studio der Rahmenbauerin Frida Kappich im Hamburger Schanzenviertel gearbeitet. Mit ihr zusammen sollen sie jeweils ihren eigenen Rahmen bauen. Hier wird die Metapher also wörtlich genommen; ein guter therapeutischer Gedanke, der auch filmisch fruchtbar ist – auch ein Filmbild ist ja eine Rahmung, der Fachbegriff „Kadrierung“– die Wahl des Bildausschnitts – kommt vom französischen Wort für Rahmen, „cadrage“. Insofern rahmt ein Film über dieses Thema seinen Gegenstand fast schon unvermeidlich auf gleich mehreren Ebenen.

Die drei Rah­men­baue­r*in­nen Daphne, Jessica und Friedo schauen sich zuerst selbst in einem Spiegel an und müssen sich so mit einer Rahmung ihrer selbst auseinandersetzen. Nachdem sie in die Kamera schildern, wen sie da sehen – oder auch vermeiden, sehen zu müssen –, führen sie ein Gespräch mit der professionellen Spiegelmacherin Kappich.

Kappich versucht herauszufinden, welche Art von Rahmen die drei für sich bauen möchten und ob dies überhaupt möglich ist. Unter ihrer Anleitung bauen die drei dann los, und es ist beeindruckend, wie gut sich ihre Gefühle und Hoffnungen schließlich in den Holzobjekten spiegeln: Jessica baut einen Rahmen mit einer Öffnung, will sich also nicht einengen lassen. Daphnes Rahmen bietet keine Rück-, sondern zwei Vorderansichten; auch sie wünscht sich also mehr Raum. Und Friedo? Zerkratzt den Goldrand seines Rahmens, als wolle er – selbst erlittene? – Beschädigungen in ihn einschreiben.

Auf Film dokumentiert hat diesen therapeutischen Workshop nun die Filmproduktionsfirma „Rakete Bildproduktion“ aus St. Pauli. Kameraführung, Montage und Musikbegleitung sind dabei so unauffällig wie möglich. Der Film ist absichtsvoll konventionell, aber auch handwerklich solide inszeniert; mehr Filmkunstanspruch hätte vermutlich nur vom Anliegen abgelenkt.

Auftraggeber Waage will damit vor allem Aufklärungsarbeit leisten: Das Krankheitsbild „Binge Eating“ soll bekannter werden. Interessant daran: Der Film verzichtet darauf, die Symp­tome der Essstörung vorzustellen oder gar zu zeigen, nie sehen wir auch nur einen einzigen Bissen in irgendeinem Mund verschwinden. Stattdessen sieht man den dreien bei der handwerklichen Arbeit zu, und weil sie dabei so unangestrengt zu sich selbst kommen, sehen in den Schlussbildern ihre Rahmen schön aus – und sie selbst tun das auch.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.