Doku zu Kindesmissbrauch in Hollywood: Das schweigsame System
Schon 2014 zeigte eine Doku, wovon Hollywood nichts wissen will: Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger ist in der Filmindustrie allgegenwärtig.
Es gibt Filme, die kein Publikum finden, etwa weil sie schlecht erzählt sind oder ihr Plot niemanden interessiert. Und dann gibt es Filme, die keiner zeigen will, weil sie eventuell zu viel Öffentlichkeit erreichen könnten. „An Open Secret“, 2014 von der US-amerikanischen Filmemacherin Amy Berg veröffentlicht, ist so ein Film. Berg, Oscar-nominiert für eine Dokumentation über Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche, wandte sich in ihrer neuen Arbeit dem systematischen sexuellen Missbrauch von Kinder- und Jugenddarstellern in Hollywood zu.
Die Premiere sollte ein Paukenschlag werden: Ehemalige Kinderstars, die vor laufender Kamera bekannte Hollywoodgrößen beschuldigen. „The film Hollywood doesn’t want you to see“ hieß es provokativ im Trailer – und so war es dann auch. Kein Verleih, kein Sender wollte die Rechte erwerben, eine größere Öffentlichkeit abseits einiger Festivals blieb dem Film verwehrt. Warum?
Hollywood ist ein geschlossenes System, zusammengehalten aus Ehrgeiz, Macht und Geld, in dem Einzelne, aber auch große Studios und Produktionsfirmen, sehr viel zu verlieren haben. Ein ideales Terrain für Pädophile – und ein Albtraum für alle, die an der Aufdeckung von Missbrauchsstrukturen interessiert sind. Wer in der Industrie noch was werden will, schweigt lieber über Erlebtes und Gesehenes. Um einzelne „Abweichler“ oder allzu eifrig recherchierende Journalisten kümmert sich ein Apparat aus kompetenten Anwälten, PR-Beratern und, wenn es sein muss, bezahlten Schlägern.
Opfer, die zum Schweigen gebracht werden, Recherchen Einzelner, die ins Nichts führen, Ermittlungen, die im Sand verlaufen; in Deutschland kennt man dieses Phänomen vom Skandal um die Odenwaldschule, der so endlos lange keiner war. Es musste sich erst ein öffentlicher Sturm zusammenbrauen, der stark genug war, die sorgsam befestigten Barrieren wegzufegen und den Blick auf ein mächtiges Netzwerk freizugeben, das über Jahrzehnte ungestört agieren konnte.
In Hollywood scheint dieser Wind gerade die erforderliche Stärke zu erreichen: Das öffentliche Reden über sexuelle Erpressung nimmt seit der Affäre um Harvey Weinstein kein Ende. Täglich kommen neue Details über Belästigung und Missbrauch in der Unterhaltungsindustrie ans Licht. Der Produzent von „An Open Secret“ nutzte diese Aufmerksamkeits und stellte den Film im Oktober auf Vimeo online. Mehr als drei Millionen Menschen haben ihn bisher gesehen.
Bergs Arbeit ist ein möglichst großes Publikum zu wünschen. „An Open Secret“ zeigt eindrücklich, dass Pädophilie kein Randphänomen in Hollywood ist, sondern bis heute allgegenwärtig. Viele ehemalige Kinderdarsteller und ihre Familien kommen zu Wort. Manche kennt man, wie den 80er-Jahre- Kinderstar Corey Feldman („Stand By Me“/ „The Lost Boys“), der sagt: „Pädophile sind überall in Hollywood, sie umringten mich und die anderen wie Geier“). Oder Elijah Wood, Darsteller aus „Der Herr der Ringe“, der ein Jahrzehnt nach Feldman „organisierten Missbrauch“ beobachtet.
Angst, Depression, Sucht
Viele andere der Darsteller kennt man nicht. Man sieht niedliche, charismatische Jungs mit großen Erwartungen und stolze Eltern. Mit reichlich Originaldokumenten wird ihr Weg nach Hollywood nachgezeichnet: Talentshows in Kleinstädten, Fototermine bei Castingagenturen, professionelle Auditions in großen Studios. Dann, Schnitt: Man blickt in die erloschenen Augen erwachsener Männer, die als Überlebende vor der Kamera stehen. Gezeichnet von Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen. Hinter ihnen liegen Jahre, in denen sie von älteren Managern, Produzenten, Studiobossen beschämt, begrabscht, bestiegen und schließlich auf Partys wie Frischfleisch herumgereicht wurden. Einigen gelang der Ausstieg früh, andere konnten sich erst mit der Volljährigkeit aus dem Griff der Kinderschänder befreien.
Berg bleibt sparsam bei den widerwärtigen Details, sie versucht vielmehr, die Strukturen und Netzwerke hinter dem Missbrauch sichtbar zu machen: Sie zeigt, wie ein pädophil veranlagter Fotograf sogenannte Headshots, also zu Castingzwecken gemachte Aufnahmen von Kinderdarstellern, im Internet verkauft, darunter an einschlägig verurteile Pädophile. Sind Kinder erst einmal als „teen candy“ identifiziert, schlagen andere zu.
Etwa der Manager Marty Weiss, der den einfühlsamen Kumpel gibt, das Vertrauen der Kinder und ihrer Familien erschleicht – und dann: verbale und körperliche Zudringlichkeiten, ein erpresster Blowjob im Auto. Dann die Einladung in die Villa seines Freunds Marc Collins-Rector, ein Unternehmer und eingefleischter Pädophiler, dessen Partys mit Investoren und unter Drogen gesetzten nackten Jungs im Whirlpool als Umschlagplätze für „Kindertalente“ gelten. Auch der berühmte Regisseur Bryan Singer soll an solchen Partys teilgenommen haben.
Wie ungeniert die pädophilen Netzwerke agierten, wird besonders deutlich im Fall des Internetsenders Digital Entertainment Network, den Collins-Rector zusammen mit seinen Kumpanen Brock Pierce und Chad Shackley gründete und in den Promis wie David Geffen investierten. Ein Ausschnitt aus der Show „Chad’s World“ zeigt, wie ältere Männer haufenweise minderjährige Jungs in ihre Luxusvilla einladen, gemeinsames Whirlpool-Baden inklusive. Genau wie im richtigen Leben. Hat jemand ein Problem damit?
Collins-Rector wurde 2002 von Interpol in Spanien gefasst und in den USA verurteilt, später floh er nach Europa. Andere, wie der Manager Marty Weiss, kamen nach nur sechs Monaten frei, die meisten aber, das ist das bedrückende Fazit des Films, laufen noch immer frei herum – und arbeiten weiter in der Filmindustrie mit Kindern und Jugendlichen. „Diese Dinge sind nicht schlimm, wenn man sie nicht als schlimm ansieht“, behauptet allen Ernstes David Harrah, Manager und ehemaliger Chef der Kinderschauspielergewerkschaft, als ihm ein ehemaliger Schützling vor laufender Kamera Übergriffe vorwirft.
„An Open Secret“ ist ganz sicher nur die Spitze des Eisbergs. Eine Recherche über die Nötigung weiblicher Kinderstars steht noch aus – bereits Shirley Temple, Kinderstar der 1930er Jahre, berichtete, wie ein Produzent ihr seinen Penis zeigte, während ein anderer Mitarbeiter im Nebenzimmer ihre Mutter begrabschte. Ein offenes Geheimnis: sicher. Aber es wird Zeit, dass diese Kultur des Vertuschens, Wegschauens und Verharmlosens ein Ende findet.
Ein weiterer Film in Arbeit
Ein weiterer Beitrag dazu könnte bald von einem der Protagonisten von „An Open Secret“ kommen. Corey Feldman, der seit Jahren immer wieder laut von dem spricht, was ältere Hollywood-Manager ihm und seinem mittlerweile verstorbenen Kinderstar-Kollegen Corey Haim angetan haben, will jetzt einen eigenen Film produzieren. Feldman startete dafür eine Fundraising-Kampagne, mit der er 10 Millionen US-Dollar einsammeln will. Er habe große Angst, sagte er im YouTube-Video zur Kampagne. Seit er sein Vorhaben öffentlich gemacht habe, sei er mit dem Tod bedroht worden. Aber er wolle seine eigene Geschichte erzählen, um endlich den Ring von Pädophilen aufzusprengen, der seit den 80er Jahren in Hollywood aktiv sei – noch heute, post Weinstein, könne er auf Anhieb sechs Namen nennen – und mindestens eins der großen Studios, das Teil der Strukturen sei.
Er beschädige eine ganze Industrie, warf die Starjournalistin Barbara Walters Feldman 2013 vor, als dieser schon einmal seine Vorwürfe laut machte – eine geradezu prototypische Reaktion für eine Branche, die von den Widerwärtigkeiten hinter ihrer glänzenden Fassade nichts wissen will.
Die Polizei in Los Angeles hat vergangene Woche Ermittlungen zu Missbrauchsvorwürfen aufgenommen, die Corey Feldman erstmals in den 1990er Jahren gemeldet hatte. Damals hätten die zuständigen Beamten seine Aussagen aber nicht ernst genommen, sagt er – heute tun sie es.
Vielleicht hat sich der Wind in Hollywood nun endlich doch gedreht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin