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Doku über Zerfall der KolonialreicheVon Mobutu bis Gandhi

Auf Arte wird das Ende der Kolonialreiche aus einer neuen Perspektive gezeigt. Kolonisierte selbst stehen im Zentrum, nicht etwa die Kolonialmächte.

Desirée Kahlkopo, eine Protagonistin aus der Dokumen­tation „Unter Herrenmenschen“ Foto: Arte/Christel Fomm/Gruppe

Das Geschichtsfernsehen kommt im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen immer so grund­solide daher, als journalistische Dokumentation, ästhetisch maximal unauffällig. Dass es auch anders geht, kann man auf Arte anhand des Dreiteilers „Entkolonisieren“ verfolgen.

Urheber ist der französische Journalist Karim Miské, der 1964 als Sohn einer Französin und eines mauretanischen Diplomaten in Abidjan, Elfenbeinküste geboren wurde. Die Herkunft ist ­insofern relevant, als sie die größte Innovation der Filme erklären könnte.

Aus dem Off: „Wo beginnt die Niederlage? Und wie tief ist der Fall? Was tust du, wenn alles zusammenbricht? Als die Europäer ein Territorium nach dem anderen erobern, von Cochinchina bis in die Kabylei? Als sie die Sultanate nacheinander pflücken wie reife Früchte auf Borneo und danach fast beiläufig den Aufstand der jamaikanischen Ex-Sklaven niederschlagen? Was tust du im ausgehenden 19. Jahrhundert, wenn du einer der mächtigsten Männer Zentralafrikas bist und wenn ein Weißer, ein Mundele, mit Waffen, Trägern und Papieren auftaucht, die unterzeichnet werden sollen?“

Das fragt Ilo Makoko, König der Batéké – nur einer in einer ganzen Reihe von Kolonisierten, in die sich Miské mit seinen Co-Autoren versetzt. Zu diesen zählt der Historiker ­Pierre Singaravélou, Mitherausgeber der in Frankreich vieldiskutierten Publikation „Histoire mondiale de la France“.

Gräueltaten der Kolonialmächte

Die empathische Umkehrung der Perspektive auf „Entkoloni­sieren“ – Miské sagt immer wieder „wir“ – ist ein gewagtes Unterfangen, macht aber die Absurdität der kolonialen Ambitionen europäischer Staaten augenfällig. Diese hielten sich für die Erfinder der Menschenrechte, brauchten Rechtfertigungen, ­Selbstvergewisserungen.

Mit den Augen eines Patrice Lumumba gesehen, des ersten Premierministers des unabhängigen Kongo, macht einen die chauvinistische Chuzpe schier fassungslos, mit der der 29-Jährige belgische König Baudouin das Land am 30. Juni 1960 in die Unabhängigkeit entlässt und diese als „die Frucht des genialen Werkes von König Leo­pold II.“ bezeichnet. Jenem Leopold II., der für die sogenannten Kongogräuel verantwortlich ist, für den Tod und die Verstümmelung von Millionen von Menschen. Miské dokumentiert Letzteres in etlichen Bildern.

Im Kongo bedeutete die Unabhängigkeit auch die baldige Ermordung Lumumbas (und seine anschließende Erklärung zum Nationalhelden) durch den Oberst Mobutu. Diese Geschichte wurde schon oft erzählt, auch im Fernsehen, wie auch die Kolonialgeschichten Algeriens oder Kenias, In­diens und Vietnams. Bei Miské wird eine gesamte Geschichte daraus, mit zahlreichen Handlungsorten.

Da trifft Lumumba im ghanaischen Accra auf Frantz Fanon, der in Algerien erst für die französischen Kolonialherren gearbeitet und dann gegen sie gekämpft hatte. Sarojini Naidu und Hô Chí Minh sind weitere bekannte Aktivisten, denen der Zuschauer neben anderen – hierzulande – weniger bekannten begegnet. Als Kolonial­mächte treten bei Miské die maßgeblichen auf: Großbritannien und Frankreich. Die einzige deutsche Episode ist kurz und spielt in Namibia – mit dem Schwerpunkt auf Eugenik, später Grundlage für rassistische Theorien und Versuche im Nationalsozialismus, und ihren Vordenkern Eugen Fischer und Theodor Mollison: „Der bekannteste unter ihren Studenten, Josef Mengele, wendet das Gelernte von 1943 bis 1945 im Vernichtungslager Auschwitz an.“

Die TV-Dokus

„Unter Herrenmenschen“,7.1., 20.15 Uhr, und „Entkolonisieren“, 21.10 Uhr auf Arte.

Wer den deutschen Kolonialismus in Nambia ausführlicher behandelt sehen will, kann sich, auf Arte, noch vor „Entkolonisieren“, die vom ZDF produzierte Dokumentation „Unter Herrenmenschen“ ansehen. Mit jener grundsoliden Abfolge von Talking Heads, wie wir sie aus dem deutschen Historien-TV kennen. Ohne den virtuosen Flow, den wir bei Miské kennengelernt haben.

So geht es aus Mobutus Kongo nach Indira Gandhis Indien. So packend kann Geschichtsfernsehen aussehen, ohne Histotainment sein zu müssen.

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3 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Es gibt übrigens Eine-Welt-Didaktik-Arbeitsgruppen, z.B. in Oldenburg, und das Portal "Globales Lernen". Zu Namibia gibt es pädagogisches Material seit den 90ern.

  • Diese Dokumentation sollte in allen Schulen als Anschauungsmaterial vorgeführt werden.



    Persönlich bin ich nach drei Dokus nicht unbedingt schlauer als vorher, jedoch haben mich die Bilder von den Vorkämpfer und Gegner des Kolonialismus mich beeindruckt, allerdings haben mich die Bilder der Brutalität der Europäer entsetzt. Deprimierend. Wie sollen die über Jahrhunderten gebeutelte Afrikaner zu Normalität wieder zurückkehren? Solange die Staaten Afrikas nicht vollständig ihre Souveränität erlangen, können sie sich nicht entwickeln. Das afrikanische Volk befindet sich in Rehabilitation. Die Hoffnung liegt in der Zukunft, denn die Wunden sind nicht verheilt.

    • @PolitSam:

      Alles richtig, aber Sätze wie "...können sie sich nicht entwickeln" kommen bei vielen Afrikaner nicht gut an. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sie nicht entwickelt bzw. Unterentwickelt sind. Eines der Argumente zur Rechtfertigung von Kolonialismus. In diesem Sinne ist auch die Rede von Sarkozy von 2007 im Senegal zu verstehen:"Die Tragödie Afrikas ist, dass es nicht genug Geschichte geschrieben hat". Ein Schlag ins Gesicht aller Afrikaner. Es ist besser von wirtschaftlicher Entwicklung zu sprechen, was sie sicherlich auch meinten.