Dörferschwund in Italien: Die Unbeugsamen
Italien ist von Landflucht bedroht. Die Menschen in der süditalienischen Region Basilicata wehren sich mit aller Kraft.
I rsina, Basilicata. Ein sonniger Mittwoch Anfang September, halb neun Uhr morgens, Berufsverkehr. Ein himmelblauer Fiat Panda biegt von der Hauptstraße ab, ansonsten ist kein Auto in Sicht. Der weiße Stein, aus dem die Häuser erbaut und mit dem die Straßen gepflastert sind, reflektiert das Licht und blendet in den Augen. Es ist so still, dass es sich anfühlt, als hätte ich Watte auf den Ohren. Die Rentner, die auf den Banken der zentralen Piazza sitzen, beobachten mich neugierig. Eine Fremde in Irsina? Das kommt nicht häufig vor.
So idyllisch der kleine Ort auf dem Hügel auch wirken mag, tatsächlich ist diese Friedlichkeit das Symptom eines massiven Problems. „Die demografischen Prognosen sind furchteinflößend“, sagt Nicola Massimo Morea, der Bürgermeister von Irsina, und rückt sich die schwarz gerahmte Brille zurecht, „für die gesamte Region ist ein Bevölkerungsschwund von 100.000 Personen in den nächsten 15 Jahren angekündigt.“
Für eine Region, die insgesamt nur eine halbe Million Einwohner hat, ist das dramatisch. Noch dazu hat Irsina augenscheinlich wenig zu bieten, um junge Leute zu halten oder anzuziehen: Nicht einmal 5.000 Einwohner, umgeben nur von Getreidefeldern auf sanft geschwungenen Hügeln, und die nächstgrößere Stadt Matera – rund 60.000 Einwohner – ist etwa 40 Kilometer entfernt.
Doch Irsina hat eine Geheimwaffe. Sie heißt Debra, Sandy, Keith oder Jan. Jeder in Irsina kennt Jan, man braucht in der Altstadt nur seinen Namen zu nennen und wird schon durch verwinkelte Gassen bis zu seiner Haustür begleitet. Der Nachname „Taljaard“ auf dem Klingelschild sticht in dem mediterranen Ambiente hervor, aber wenn man ihn darauf anspricht, winkt er ab und fängt an, seine Nachbarn aufzuzählen: die Amerikaner direkt gegenüber, das Pärchen aus Südafrika in dem Haus mit der roten Tür und die Kanadierin ein paar Gassen weiter, hinter der Bäckerei.
Rente im Süden
16 verschiedene Nationalitäten wohnen inzwischen Tür an Tür in der Altstadt Irsinas. Wie kommt es dazu? Taljaard wird es erklären, zusammen mit seiner kanadischen Nachbarin Debra Semeniuk.
Eine halbe Stunde später klingele ich an Semeniuks Haus direkt in der Stadtmauer. Sie steckt den Kopf mit dem markanten dunklen Bobhaarschnitt aus der Haustür, „come in!“. Taljaard sitzt schon im Wohnzimmer, einem luftigen Raum mit hohen, weiß getünchten Wänden und einem spektakulären Ausblick über ein Meer an Hügeln und den strahlend blauen Himmel. „Fang du an“, sagt sie zu Taljaard, „du warst zuerst hier.“
Taljaard – Sonnenbrille, die langen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, weites T-Shirt – beginnt zu erzählen. Wie er und seine Frau, als sie auf die Rente zugingen, nach einem Ort suchten, wo sie diese gemütlich verbringen konnten. Dass sie Freunde in Südfrankreich hatten, es dort aber viel zu teuer sei. Und wie sie letztlich im Internet auf Irsina stießen.
Sie lasen von einer Initiative, die Ausländern ein Rundumpaket anbot, wenn sie sich in Irsina niederlassen würden: Unterstützung beim Finden einer Wohnung, bei der kompletten Renovierung und dem unvermeidlichen bürokratischen Eiertanz. 2007 kamen die beiden zum ersten Mal nach Irsina, sie kauften ein Haus, pendelten einige Jahre lang zwischen Brüssel und der Basilicata hin und her.
Digitales Hub im Palazzo
Als sie 2016 in Rente gingen, wohnten sie bereits mehrere Monate in Irsina. Taljaard schwärmt von dem entspannten Lebensstil des Südens: „Ich liebe die Mentalität der Menschen hier, sie sind sehr warm und offen.“ Semeniuk nickt entschieden, ihre Ohrringe mit dem süditalienischen Keramik-Motiv baumeln wild hin und her. Obwohl sie erst Ende 2019 und damit kurz vor den coronabedingten Ausgangssperren und Reisebeschränkungen nach Irsina kam, bereut die ehemalige Zahnärztin es nicht. „Die Menschen sind es, die mich überzeugt haben. Ich habe hier großartige Freundschaften geschlossen.“
Schöner als die beiden Expats könnte auch Bürgermeister Morea nicht von Irsina schwärmen. „Ich bin in der Altstadt aufgewachsen“, erzählt der 44-Jährige, „als ich vor sieben Jahren mein Amt angetreten habe, habe ich es mir zum Ziel gesetzt, sie wiederzubeleben.“ Denn das centro storico sah nicht immer so pittoresk aus wie heute, die jahrhundertealten Gemäuer waren nicht so gründlich renoviert, Blumen in Terrakottakübeln vor liebevoll dekorierten Hauseingängen waren eine Seltenheit. Im Gegenteil, viele Einheimische zogen in den neuen Teil Irsinas in moderne Wohnungen. „Von den Expats haben wir neu gelernt, die Altstadt zu schätzen“, sagt Morea.
In den letzten Jahren hat sich einiges getan: Der Asphaltboden ist nahezu komplett aus dem historischen Zentrum verschwunden, neue Wasserleitungen bedienen die Haushalte, und als einer der ersten Orte der Region bekam Irsina eine ultraschnelle Internetverbindung. Als Nächstes möchte der Bürgermeister in einem historischen Palazzo ein digitales Hub schaffen, um mehr junge Menschen anzuziehen – Homeoffice in Irsina, dabei das entspannte Dorfleben und die niedrigen Lebenskosten genießen. Schon mit rund 50.000 Euro kann man in Irsina eine Immobilie kaufen und sanieren.
Der Fortschritt bleibt nicht unbemerkt. Seit 2018 ist Irsina offiziell eines der borghi più belli d’Italia, eines der schönsten Dörfer Italiens, im Jahr darauf war das nahegelegene Matera europäische Kulturhauptstadt. Seitdem kommen mehr Touristen. Irsina herauszuputzen ist für Morea wichtig, aber er will nicht nur auf Tourismus setzen. „Klar, wenn der Ort hässlich ist, werden die Leute ihn weder besuchen noch dort hinziehen wollen. Aber man muss neben der Ästhetik auch Infrastruktur anbieten.“
Zwischen Neapel und Bari
Der öffentliche Nahverkehr könnte hierbei ein Sorgenkind sein. Der Bus von Irsina nach Matera fährt vier Mal am Tag. Taljaard und Semeniuk sehen das anders. „Irsina ist überhaupt nicht abgelegen“, sagen sie fast empört. „Man kommt überall mit dem Bus oder dem Zug hin, man darf nur keine Eile haben. Wenn man Zeit hat, ist alles machbar“, sagt Semeniuk.
Taljaard ergänzt, dass Irsina genau in der Mitte zwischen Bari an der Adria und Neapel auf der anderen Mittelmeerseite liege. Deshalb führte in alten Zeiten eine wichtige Straße an Irsina vorbei, hier gab es Gasthöfe, in denen Reisende die Pferde wechseln konnten. „So gesehen liegt Irsina sehr zentral“, sagt Taljaard. „Für mich ist die Lage ein großer Vorteil, weil es hier so ruhig ist und überhaupt nicht touristisch“, betont Semeniuk.
Langweilig wird es ihnen eh nicht. Die Expat-Gemeinschaft hat Leben in den Ort gebracht. Wenn die beiden ihre Freizeit beschreiben, fliegen Namen und Nationalitäten, Adressen und Veranstaltungen zwischen ihnen hin und her. Ob man nun wie Jan die Ruhe nutzt, um Bücher zu schreiben, oder wie Semeniuk mit einer Nachbarin die örtlichen Spezialitäten kochen lernt und sich dabei mit Händen und Füßen verständigt.
Sie erklärt: „Es hängt viel von deinen Sprachkenntnissen ab. Aber die Irsinesi sind sehr offen, und viele bemühen sich, Englisch zu lernen.“ Sie selbst hat noch nicht so gut Italienisch gelernt wie erhofft. Die große Expat-Gemeinschaft und die Pandemie haben sie gebremst. Taljaard sagt: „Wenn ich zum Einkaufen in die Neustadt gehe, treffe ich auf dem Weg jedes Mal 300 Leute, die mich grüßen: Ciao buongiorno, come stai? Che mangi oggi?“
Von täglich Pasta stirbt niemand
Die Ritualfrage „was isst du heute“ sorge dabei immer wieder für Verwirrung. „Manchmal habe ich Lust auf Chinesisch, mal Mexikanisch, mal Indisch“, sagt er. „Aber hier verstehen sie nicht, warum ich nicht jeden Mittag Pasta essen will. Als ob ich davon gleich sterben würde“, fügt er trocken hinzu.
Auch der Bürgermeister spricht sehr positiv vom Zusammenleben mit den Expats: „Gestern Abend war ich noch bis drei Uhr nachts mit einer Gruppe Amerikaner unterwegs, ein Riesenspaß,“ und wirkt dabei etwas übernächtigt, aber durchaus zufrieden. Seine Amtskolleg:innen aus den Orten rundum fragen ihn bereits, was Irsinas Geheimnis sei.
Denn schon ein Dorf weiter sieht es ganz anders aus – keine Expats, kein voller Veranstaltungskalender. „Irsina ist etwas Besonderes“, sind sich Semeniuk und Taljaard einig. Nachdem die ersten Expats angekommen waren, kamen immer mehr nach, oft aus der Familie oder dem Freundeskreis der Pioniere. „Ich kenne meinen Nachbarn von gegenüber, seit ich fünf Jahre alt war“, sagt Taljaard, „wir sind zusammen zur Schule gegangen.“ Er hat einen Namen für das Phänomen erfunden: „It’s the Irsina bug“, sagt er, der Irsina-Virus, „wenn du einmal hier bist, kannst du nicht mehr weg.“ Und dabei lachen die beiden so herzlich, dass man gar nicht anders kann, als selbst ein bisschen vom süditalienischen Landleben zu träumen.
Doch es wird spät, und Taljaard hat nicht mehr viel Zeit. Der Lebensmittelladen schließt gleich für die Mittagspause. Es reicht aber noch für ein gemeinsames Foto auf dem Balkon. Semeniuk lacht: „Damit werden wir zum Gespräch der Stadt!“ Denn Klatsch und Tratsch sind in Irsina noch flinker unterwegs als das superschnelle Internet. Schließlich kennt jeder jeden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Von wegen Untergang des Liberalismus
Wird der Wahlkampf eine nationale Katastrophe?