Diskussion um afghanische Geflüchtete: Keine Angst vor einem neuen 2015
CDU-Kanzlerkandidat Laschet behauptet, „wir“ dürften „die Fehler von 2015 nicht wiederholen“. Doch dieses Jahr festigte die Solidarität ganzer Milieus.
D ie Entwicklung in Afghanistan hat ein derartiges Potenzial für künftiges Leid, dass es getrost auf eine Stufe mit dem Syrienkrieg gestellt werden kann. Dem Christen Armin Laschet fiel dazu die Warnung ein, „wir“ dürften „die Fehler von 2015 nicht wiederholen“. Viele behaupteten, Laschet habe den – tatsächlich begangenen – Fehler gemeint, dass die internationale Gemeinschaft nicht ausreichend humanitäre Hilfe rund um Syrien geleistet habe.
Aber Laschet meinte mitnichten nur das. Er sagte auch: „Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann.“ Das ist ein Zerrbild von „2015“, mit dem Laschet Ängste vor einem Kontrollverlust des Grenzregimes adressiert. Deutschland, dessen Innenminister sich über 69 abgeschobene Afghanen zu seinem 69. Geburtstag freut, hat nie das Signal ausgesandt, „alle, die in Not sind“, aufzunehmen.
Tatsächlich wurde seit 2015 ein schwer zu überwindender Kordon von Barrieren auf dem Weg nach Europa errichtet. Gleichzeitig ist die staatliche Bereitschaft zur – auch tödlichen – Gewaltanwendung gegen Flüchtlinge gestiegen, wie sich im Februar 2020 an der griechisch-türkischen Grenze zeigte.
2015 war ein historischer Moment der Solidarität, in dem der Wille der Flüchtlinge, selbst ihr eigenes Überleben zu sichern, auf die gesellschaftliche Bereitschaft traf, ihnen dazu eine Chance zu geben. Nicht nur als Christ könnte man heute an dieses Gefühl appellieren.
Schon 2015 haben viele versucht, die „Willkommenskultur“ als Strohfeuer kleinzureden, das zwangsläufig bald ins Gegenteil umschlagen müsse. Tatsächlich hat „2015“ ganze Milieus der Solidarität gefestigt und erweitert. Die „Seebrücken“-Bewegung, die an diesem Wochenende in 70 Städten für die Aufnahme aus Afghanistan demonstriert, ist nur ein Teil davon.
Aus dem gesellschaftlichen Impuls von 2015 sind Initiativen für Hunderte kommunaler und mehrere Landesaufnahmeprogramme hervorgegangen. Sie waren es, die eine angemessene Antwort auf die Katastrophe in Afghanistan zu geben imstande waren: Wir haben keine Angst vor einem neuen „2015“. Wir haben Platz für die, die in existenzieller Not sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste