Diskussion um Mindestlohn: Sie wär' gern wieder Unterschicht

Union und SPD debattieren über die Höhe des Mindestlohns. Es hängt allerdings nicht vom Geld allein ab, wie arm sich jemand fühlt. Sondern?

Kann man seine Wohnung immer richtig heizen? Danach fragt das Konzept der „materiellen Deprivation“. Bild: dpa

Auf ihrem Parteitag in Leipzig hat Sigmar Gabriel für die SPD noch einmal klargestellt, worum es ihr in einer großen Koalition geht. Es müsse „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ und einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro geben, wenn das Bündnis mit der Union funktionieren soll. Der „massenhafte Missbrauch von Werkverträgen“ müsse beendet werden, forderte der Vorsitzende der Sozialdemokraten. Außerdem verlangte er einen fairen Anstieg der Rente.

Wenn in diesen Tagen über die Bedingungen der Koalition verhandelt wird, geht es oft um Zahlen. 8,50 Euro etwa ist so eine Zahl, beim Mindestlohn. Die Verhandlungen vermitteln den Eindruck, dass man diesen einen Schalter umlegen muss, damit es vielen Menschen besser geht. Flächendeckend.

Die Wirtschaftsweisen haben in dieser Woche dann eine Gegenzahl demonstriert: Jeden fünften Job könne ein solcher flächendeckender Mindestlohn bedrohen, sagte der Vorsitzender Christoph Schmidt.

Die Gewerkschaft IG Metall wiederum fordert nicht einen Mindestlohn allein, sondern tiefergehende Reformen auf dem Arbeitsmarkt.

Kann man die Wohnung angemessen heizen?

Union und SPD verhandeln über Mindestlohn und Rente. Aber wovon hängt es ab, ob sich jemand arm fühlt? Nur vom Geld? Vier Begegnungen an den Grenzen der Armut lesen Sie in der taz.am wochenende vom 16./17. November 2013 . Darin außerdem: Der deutsche Kunstmarkt muss jetzt endlich Verantwortung für die Raubzüge des „Dritten Reiches“ übernehmen, sagt der Historiker Hanns C. Löhr. Und der sonntaz-Streit: Der neue iranische Präsident Rohani gilt als verhandlungsbereit. Kann man dem Iran trauen? Nein, sagt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

sonntaz-Reporterin Steffi Unsleber hat sich angesichts dieser Debatten mit der Frage beschäftigt, was Armut eigentlich für die Menschen ausmacht, die arm sind oder als arm gelten. Ab wann fühlt sich jemand in Deutschland arm? Wie stark hängt dieses Gefühl von Geld ab, von den Freunden, der Umgebung? Davon ob jemand Kinder hat oder nicht? Ob man mit Mitte 20 gerade noch studiert oder mit Anfang 40 längst gesettelt sein wollte?

Es gibt unterschiedliche Arten, Armut zu messen. Eine ist das Konzept der "materiellen Deprivation". Sind drei von neun Kriterien erfüllt, dann gilt ein Mensch oder eine Familie als arm.

Die Kriterien bilden eine Checkliste, die jeder für sich abhaken kann: Kann man die Miete oder die Rechnungen für Strom, Gas oder Heizung rechtzeitig bezahlen? Die Wohnung angemessen heizen? Unerwartete Ausgaben selbst bestreiten? Jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit essen? Jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung machen?

Weitere Kriterien: Fehlen eines Autos. Einer Waschmaschine. Eines Telefons. Eines „Farbfernsehgeräts“.

Man verwendet dieses Konzept, um die Länder der EU miteinander zu vergleichen. 2009 war in Deutschland jeder Achte materiell depriviert, in Bulgarien und Rumänien war es beispielsweise jeder Zweite.

Angst vor Ansteckung

Wahrscheinlich würde Jutta Oel nicht dazu zählen. Dennoch schrieb die taz-Leserin uns: „Ich wünsche wieder als Unterschicht bezeichnet zu werden. Nicht weil ich das gerne wäre, sondern weil es der Wahrheit entspricht. Ich komme gerade so über den Monat. Ich kann keine Rücklagen bilden. Ich kann nicht für mich sorgen. Der verlorene Zahn bleibt leider unersetzt.“

Ist Jutta Oel Mittelschicht? Oder arm?

Steffi Unsleber hat sie für die Titelgeschichte der taz.am wochenende besucht. Und grundsätzlich festgestellt: Die Grenze verwischt. Die Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren dünner geworden, ein Teil von ihr ist in die Unterschicht abgerutscht. Deshalb versucht sich die bürgerliche Mitte jetzt nach unten abzugrenzen. Wegen der Ansteckungsgefahr. „Ja, komisch, nicht?“, sagt Silke Borgstedt. Sie leitet die Sozialforschung des Berliner Sinus-Instituts, in dem man versucht, gesellschaftliche Milieus in Diagrammen abzubilden. „Das ist wie bei einer Grippe.“

Interessant ist, sagt sie, dass dasselbe Milieu in den Neunzigern noch einen anderen Namen hatte: aufstiegsorientiertes Milieu. Heute geht der Blick eher in die entgegengesetzte Richtung: Man weiß vor allem, wo man nicht hinwill.

Neue Zähne? Oder nicht?

Die Angst beginnt, wenn man sich bestimmte Dinge nicht mehr leisten kann: Neue Zähne beispielsweise – oder auch nur Kronen.

Aber macht das Armut aus? Sind Hartz-IV-Empfänger arm? Menschen mit Wohnung, Heizung, Essen und Trinken, Kleidern? Ein Leben, das beschwerlich ist und manchmal auch entwürdigend, aber in dem die Grundbedürfnisse doch erfüllt werden - ist es arm? Und falls ja: arm an was?

Es gibt Menschen, die von wenig Geld leben, aber sich nicht arm fühlen – weil sie es aus Überzeugung tun, vielleicht. Weil sie relativ zu ihrem Umfeld gesehen nicht arm sind, oder weil ihr Leben nicht teuer ist - auf dem Dorf, auf dem Bauwagenplatz oder im Kloster.

Wo fängt Armut für Sie an? Haben Sie sich auch schon einmal arm gefühlt, obwohl sie allen gängigen Definitionen zufolge der Mittelschicht angehören? Oder geht es Ihnen ganz anders: Sie haben kaum Geld, aber fühlen sich trotzdem nicht arm? Welche Hoffnungen kann man auf den Mindestlohn setzen? Und schafft es die SPD überhaupt, sich mit ihren 8,50 Euro durchzusetzen?

Diskutieren Sie mit!

Die Titelgeschichte „Wo fängt Armut an?“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 16./17. November 2013.

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