Diskussion um 11. Pflichtschuljahr: Flexen für mehr Bildung
Jugendlichen, die nach der 10. Klasse ohne Abschluss abgehen, will Berlin neue Angebote machen. Sie sollten aber schon viel früher aufgefangen werden.
P ro Jahr verlassen rund 3.000 Schüler*innen in Berlin die 10. Klasse, ohne zu wissen, was sie danach machen werden. Die Verwaltung wiederum weiß nicht, was aus diesen Schulabgänger*innen auf lange Sicht wird – einem einfachen Übergang in gut bezahlte Berufe oder in eine gute weitere Ausbildung ist solch ein Ende der Schulzeit aber vermutlich nicht dienlich.
Diesen Schüler*innen will nun Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) zukünftig ein besseres Angebot machen. Sie will alle diejenigen auffangen, die mit Ende der allgemeinen Schulpflicht weder in eine weiterführende Schule noch in eine Ausbildung wechseln. Denn das sei eine Gruppe, die die Bildungsverwaltung bisher „komplett vom Schirm verloren“ hätte. Ein bitteres Eingeständnis, immerhin sind das im Schnitt 10 Prozent eines Jahrgangs, bei jährlich rund 30.000 Absolvent*innen der 10. Klasse.
Grundsätzlich finden auch Politiker*innen anderer Parteien, Verbände und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) diesen Vorstoß unterstützenswert. Doch was ein gutes Angebot für diese Schüler*innengruppe sein könnte, darüber gehen die Ideen stark auseinander.
Das fängt schon beim Namen an: Die Bildungssenatorin redet bisher von einem „11. Pflichtschuljahr“ – den Grünen klingt das zu abschreckend, sie würden es lieber „Perspektivenjahr“ nennen. Am nächsten an die Zielgruppe – und deren Sprachgebrauch – kommt sicherlich die GEW, die am Donnerstag im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses ein „Flex-Jahr“ ins Gespräch brachte. Die GEW ist auch die Stimme, die deutlich einfordert, dass so ein Jahr nicht allein einer Vorbereitung auf eine Ausbildung dienen, sondern den Jugendlichen wirklich eine Perspektive eröffnen sollte.
So wenig Schule wie möglich
Wichtig finden die meisten, dass das, was nach der 10. Klasse kommt (also nach der allgemeinen Schulpflicht), so wenig nach Schule aussieht wie möglich. Ein Vertreter der Industrie- und Handelskammer etwa pocht auf eine starke Praxisorientierung. „Es darf sich nicht anfühlen wie Schule, und daher sollte es zu Beginn eines solchen Jahres erst gar nicht in ein Schulgebäude gehen“, fordert er.
Denn wie so ein 11. Pflichtschul-, Flex- oder Perspektivenjahr ausgestaltet werden soll, und wie es sich von bestehenden Angeboten unterscheidet, ist bislang unklar. Genauso ist offen, wo es etwa Überschneidungen zu den bereits bestehenden, vielfältigen berufsorientierenden Angeboten geben wird.
Generell ist es erstmal gut, dass diese Gruppe der Schulabgänger*innen in den Blick kommt. Doch die Debatte sollte sich nun nicht nur auf das 10. und ein mögliches 11. Jahr konzentrieren. Denn die Frage ist ja auch, was im Schulsystem falsch läuft, dass so viele Schüler*innen letztlich durchs Raster fallen.
Wenn Schüler*innen eine sogenannte Schuldistanz entwickeln, liegt das weniger an den jungen Menschen selbst, sondern daran, dass Schule, wie sie noch immer vielerorts umgesetzt wird, vor allem diejenigen erreicht, die sich in das System einpassen.
Abschied von der Fixierung auf Kernfächer
Gerade diejenigen, die an dem System scheitern, sollten allerdings bereits viel früher Angebote bekommen, über die sie in erfolgreiche Bildungswege finden können – ohne dass das übrigens zwingend eine duale Ausbildung sein muss. Dazu braucht es zuverlässige Beziehungen: zu Lehrer*innen, zu Mitarbeiter*innen bei den Jugendberufsagenturen, zu Sozialarbeiter*innen, zu Berufsberater*innen. Es müsste dazu Raum geben für wiederholte Treffen mit all diesen Beteiligten.
Schulen müssten sich zudem von ihrer Fixierung auf Mathe, Deutsch und Englisch verabschieden und mehr als bisher Wissen über und Einblicke in vielfältige Berufsfelder vermitteln. Denn ja, ein gutes Abschneiden in den sogenannten Kernfächern macht vieles leichter und hilft beim Bildungserfolg.
Aber im Bildungssystem müssen sich auch Schüler*innen aufgehoben fühlen und Erfolgserlebnisse haben, deren Stärken in anderen Bereichen liegen. Wer die 3.000 Schüler*innen nicht „verlieren“ will, sollte sie schon weit vor einer 11. Klasse im Blick haben und fragen, was sie brauchen, um gut voranzukommen.
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