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Diskursives MusiktheaterDie Tragik des falschen Akzentes

Das Projekt „Songs For Captured Voices“ im Radialsystem spannt einen weiten Bogen. Seinen diskursiven Ansprüchen wird es aber nicht gerecht.

Das Musiktheater „Songs For Captured Voices“ im Berliner Radialsystem Foto: Rita Couto

Wie wurden Lautaufnahmen menschlicher Stimmen in der Welt- und Zeitgeschichte instrumentalisiert? Wie wurden und werden sie zur politischen Machtausübung eingesetzt? Das ist die (große) Ausgangsfrage des diskursiven Musikprojekts „Songs For Captured Voices“, das eigentlich in diesen Tagen als Echtzeitmusik-Performance im Radialsystem gezeigt werden sollte – nun aber aufgrund der Lockdown-Situation vorerst nur als Albumversion (mit Booklet) abrufbar ist.

„Songs For Captured Voices“, eine Zusammenarbeit der*­des Berliner Kom­po­nis­t*in Laure M. Hiendl mit dem Ensemble KNM Berlin und der Londoner Sängerin und Performerin Elaine Mitchener, setzt sich mit Stimmaufnahmen in zwei unterschiedlichen historisch-geselllschaftlichen Kontexten auseinander. Zum einen mit jenen aus den deutschen Kriegsgefangenenlagern beider Weltkriege, als etwa im Ersten Weltkrieg im sogenannten „Halbmondlager“ bei Wünsdorf/Zossen die Stimmen der Inhaftierten – zum Beispiel von Indern und Kongolesen – zu ethnologischen Zwecken aufgenommen wurden.

Zum anderen beschäftigt sie sich mit einer Praxis, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) seit 2017 angewandt wird: Eine Sprachsoftware dient der automatisierten Erkennung von Dialekten jener Asylbewerber*innen, die keine Identifikationspapiere vorlegen. Von vielen Seiten sind diese digitalen Assistenten als intransparent und fehleranfällig kritisiert worden – benutzt werden sie bis heute.

In der Komposition „Songs For Captured Voices“ sind nun nicht die Lautaufnahmen der Gefangenen oder Asylsuchenden zu hören, wie man denken könnte, sondern das Team um Hiendl hat ein Libretto zu einer Klangcollage verfasst. Elaine Mitchener liest und singt die Texte; dem Sujet entsprechend wird ihre Stimme geloopt, hoch- und runtergepitcht, es wird viel mit Stimmmodulation gearbeitet.

„Songs For Captured Voices“

Bis 28. Februar virtuell über das Radialsystem

Im ersten Stück „Welcome“ etwa spricht Mitchener einen Werbeclaim des Bamf, wobei ihre Stimme verfremdet wird und leiert – ein wenig dezenter Hinweis auf die Möglichkeit, menschliche Stimmaufnahmen zu manipulieren. Die Soundscapes des Ensemble KNM Berlin bestehen teils aus sachtem Trommeln oder metronomartiger Percussion, teils aus lautem Noise-Gewummer oder Cello-Drones.

Texte im Fokus

Im Zentrum aber stehen die gesprochenen und gesungenen Texte – und deren Inhalte sind nicht immer überzeugend. Wenn sie nah bei ihrem Gegenstand bleiben, erscheinen sie nachvollziehbar und punktgenau: Etwa wenn der PR-Sprech des Bamf gesampelt, verunstaltet und entlarvt wird („Putting people first: providing security, creating opportunities, embracing change“), oder wenn in „The Occasional Coughs“ („Das unwillkürliche Husten“) die Folgen beschrieben werden, die es haben kann, wenn der Akzent eines Asylsuchenden falsch erkannt wird: „makes a mistake with the accent/ a tragedy“ („macht einen Fehler mit dem Akzent/ eine Tragödie“). Auch dass man jenen Namen gibt, die einst in den Gefangenenlagern für die Lautaufnahmen als völkerkundliche Objekte herhalten mussten („Say their names: Mall Singh, Albert Kudjabo, Josep T.“), ist einleuchtend.

Doch es gibt auch jene Texte, in denen alles, was so durch den postkolonialistischen Diskursraum wabert, frei flottierend gesampelt wird. Da stellt man etwa in „Listen To The Sound Of Bullets“ die viel zitierte Alltagsphrase „Where are you from? Where exactly are you from?“ als Analogie neben die einstigen Rassetheoretiker und Ethnologen; ganz so, als lebten wir heute noch in Zeiten der Völkerschauen, als habe es keine Entwicklung gegeben, als sei Dekolonisierung nicht notwendigerweise ein Prozess. So richtig es ist, Kontinuitäten aus der deutschen Kolonialzeit zum NS aufzuzeigen, so fragwürdig wirkt da mancher Vergleich zum heutigen Europa und Deutschland.

In „News“ schließlich werden recht uninspiriert und kontextfrei Krisenherde nebeneinandergestellt. Es dürfte überdies kein Zufall sein, dass kurz darauf Israel in ahistorischer Weise als kolonialistisches Projekt wie jedes andere aufgeführt wird und ausgerechnet dieser Staat genannt wird, wenn es um die KI-Kriege der Zukunft geht: „Israeli face recognition systems/ identified a Palestinian/ Then…“. Es scheint evident, was „then“, „dann“ passiert.

So bringt sich diese Arbeit stellenweise um die legitime Kritik, weil sie Dinge ungenau kontextualisiert, die differenzierter betrachtet werden müssten. Schließlich ist es auch schade, dass die hochspannenden Ausgangsgegenstände nicht genauer auseinandergenommen werden. Über die Funktionsweise der Bamf-Software etwa wird insgesamt recht wenig öffentlich diskutiert, über sie hätte man gern sehr viel mehr gewusst – dies wäre der Raum dafür gewesen. Auch über das – nicht mehr gänzlich unbekannte – Lautarchiv und seine Geschichte hätte es noch viel Erzählenswertes gegeben. Trotz der teilweise gelungenen Polemiken und Anklagen bleiben so viele Fragen offen – und man hätte sich mehr Arbeit am eigentlichen Material gewünscht.

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