Discounter-Mode von Lidl: Was die Plastiktüte erzählt
Wer ohne Turnbeutel in die Schule kam, durfte sich nicht viele Hoffnungen machen. Heute ist Discounter-Ästhetik schick und wird versteigert. Warum?
A uf meiner Grundschule gab es Kinder, die ihre Sachen für den Sportunterricht in Discounter-Plastiktüten mitbrachten. Schulranzen waren teuer, die passenden Turnbeutel auch kein Schnäppchen. Weil sie wenig Geld hatten, packten die Eltern dieser Kinder, die nach den Sommerferien keine spannenden Reisegeschichten zu erzählen hatten, die Turnschuhe in orangeblaue und blaugelbe Plastiktüten.
Die Eltern dachten sich nicht viel dabei. Proletarischer Pragmatismus. Was ihre Kinder fühlten, konnte ich ahnen, weil mich mit ihnen viel verband. Über so was sprachen wir aber nicht. Weil die Kinder mit den Plastiktüten, die Kinder mit den Turnbeuteln und die Lehrer genau wussten, wofür die Plastiktüten standen: ein Alltagsgegenstand, der wie andere Alltäglichkeiten nicht der Rede wert ist, an und mit dem sich aber unterscheidet, wer zuversichtlich in die Zukunft blicken darf und wer sich nicht allzu viele Hoffnungen machen sollte.
Heute ist Discounter-Ästhetik begehrt. Schauspieler wie Lars Eidinger posieren mit Designerimitationen der Aldi-Plastiktüte vor Obdachlosenschlaflagern. Lidl verkauft Sneakers, Trainingsanzüge und Shirts, auf denen das Discounter-Logo prangt. Die Trashmode erfreut sich so großer Beliebtheit, dass Turnschuhe, die der Discounter 2020 anbot, schnell ausverkauft waren. Online wurden die 20-Euro-Sneaker dann für mehrere Hundert Euro weiterverkauft. Anfang dieser Woche hat Lidl eine neue Kollektion herausgebracht. Ein Trainingsanzug, der auf der Lidl-Website kurz für 20 Euro zu erwerben und dann vergriffen war, steht jetzt für 120 Euro bei Ebay.
Der Trend bewegte Stil-Redakteure dazu, Mode- und Marketingexperten zu befragen. Den Reiz des Unkonventionellen, die Demokratisierung der Mode, das Anti-Status-Statement, die künstliche Verknappung oder den Einfluss von Luxuslabels wie Balenciaga, die auch mit Alltagsreferenzen arbeiteten, sahen diese hinter dem Phänomen.
Armut und Ironie
Ich denke, dass mehr dahintersteckt, wenn sich jemand die Plastiktüten-Ästhetik freiwillig und ohne Not zu eigen macht. Modetrends drücken immer auch menschliche Bedürfnisse aus, einen gesellschaftlichen Zeitgeist. Menschen geben sich deshalb nicht allein aus Ironie den Anstrich von Armut. Sie wollen aus der erdrückenden Langeweile fliehen, die ein Leben im Kapitalismus auch und besonders für jene bedeutet, die nie für etwas kämpfen, um etwas bangen mussten. Weil alles, was sie brauchten, schon immer da war. Das Leben der anderen, die stets kämpfen, aber nie zu ihnen aufschließen können, romantisieren sie deshalb.
Der 18-Jährige Clay in Bret Easton Ellis’ Roman „Unter Null“ (1985) verzweifelt so sehr an dieser Spannungslosigkeit, dass er sich ständig zukokst. Andere tauchen mit Rap oder Gangsterserien in fremde Lebenswelten ein, was gesünder ist. Aber sich mit Discounter-Plastiktüten einzukleiden? Das ist einfach nur peinlich.
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