Digitale Spielereien in Oldenburg: #staatstheater for future
Die Exerzierhalle dient dem Staatstheater Oldenburg als „Technical Ballroom“. Die erste Musiktheaterpremiere kommentiert die Klimakatastrophe.
Aber ob nun Streams, Serien-Formate, Zoom-Performances, 3-D-Filme, Kurznachrichten-Dialoge etc. präsentiert wurden: „Wir fanden das nicht toll“, denn alles habe es anderswo im Netz schon viel besser gegeben, sagt Regisseur Kevin Barz. Mit „Wir“ sind ziemlich viele Theatermacher gemeint, denn kaum einer ihrer technoiden Aufbrüche wird in dieser Spielzeit fortgeführt.
Am Staatstheater Oldenburg aber wendet sich Barz als Projektleiter gegen die Re-Analogisierung der darstellenden Künste. Dank einer Förderung der Bundeskulturstiftung konnte die Spielstätte Exerzierhalle zum „Technical Ballroom“ mit Videowall als Einheitsbühnenbild hergerichtet werden.
Vertreter der Staatstheater-Sparten erarbeiten darin neun Inszenierungen, bei denen eben nicht die analoge Kunstform in digitale Räume gezwungen, sondern das Digitale in den analogen Raum geholt wird. Denn essenziell bleibt für Barz das kollektive Live-Erlebnis.
Zuschauerakquise bei Digital Natives
Den „Technical Ballroom“ versteht Barz als „Tor zur Digitalität“ und Zuschauerakquise im Segment Digital Natives. Bei denen vermutet er ein sensibles Bewusstsein für soziale Themen. Die werden nun high-tech inszeniert. Der experimentelle Duktus bezieht sich auf Licht-, Ton-, Bühnen-, Bewegte-Bilder-Technik. Aber auch die digitale Revolution selbst kommt ins Spotlight.
Für „requiem.exe“ (Premiere: 27. 5. 2023) sollen humane Pflegekräfte und ein Pflegeroboter für ihre Art zu arbeiten werben. Am Ende wird das Publikum vor der Frage stehen: „Von einer Maschine ohne Emotionen gepflegt zu werden, die sich bedingungslos an ihre programmierte Aufgabe hält, wäre ja gruselig. Oder etwa doch nicht?“
Die erste große Musiktheaterpremiere im „Technical Ballroom“ ist „Die vier neuen Jahreszeiten“ betitelt. Ein riesiger, zottelfelliger Eisbärenkörper liegt mahnend drapiert zwischen Zuschauertribüne und Bühne. Wie gefrorene Tränen rieseln Schneeflocken vom Himmel. Eisiges Raunen entfleucht den Lautsprechern.
Von Beginn an geht es unter Barz’ Regie weniger um einen Argumente abwägenden Klimawandel-Diskurs, sondern um die plakativen Arrangements und das Klartexter-Pathos der aktuell für Aufregung sorgenden „Letzten Generation“.
Um all das in korrekter Wutartikulation auf die Bühne zu bringen, hat Barz Kontakt mit der Scientist Rebellion aufgenommen, einem Zusammenschluss von mehr als 500 Wissenschaftlern aus 42 Ländern, die auf radikalere Widerstandsformate setzen, als die Fridays-for-Future-Demonstranten. Aus Texten der Aktivisten und dem Interview mit einer entsprechend engagierten Akademikerin wurde der Stückmonolog für eine typisierte Naturwissenschaftlerin-Biografie collagiert.
„1725“ wird eingeblendet, das Jahr, in dem Vivaldi seine Violinkonzerte „Le quattro stagioni“ veröffentlicht hat, die nun als musikalisches Lamento inszeniert werden. Ein Playback eingespieltes Kammerensemble grundiert die filigranen Aufschwünge der Soloviolinistinnen Agnes Izdebska-Goraj und Maja Syrnicka.
So wie Vivaldi den vier Werken jeweils ein Sonett voranstellt, um lesbar zu machen, was zu hören sein soll, erklärt nun eine Wissenschaftlerin (Marie Becker) im strengen Vortragstonfall, dass die jubilierend knospende Frühlingsmusik, ja, das ganze farbenfrohe Abbild der Jahreszeiten der Ausdruck von Wetter- und Klimaerfahrungen im 18. Jahrhundert ist, dem Ende der kleinen Eiszeit.
Damals habe die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch bei 280 ppm gelegen, also 280 Millionstel Teile. Die Entwicklung bis auf über 400 ppm heute verdeutlichen digital animierte Grafiken, die vom Bühnenboden peu à peu dem Bühnenhimmel entgegenkurven.
Schon wird „1840“ eingeblendet, rauchende Schlote der Industrialisierung, Kohlehalden, Dampfloks flimmern vorüber. Das unaufhaltsame Fließen der vom Werden und Vergehen erzählenden Klangbeschwörungen Vivaldis verliert dabei seine klare Formensprache. Die Interpretation wirkt dank digitaler Technik beunruhigend verzerrt und wird von Klangstürmen wie Extremwettereignissen bedrohlich durchweht.
Unterrichtsstunde mit Agitprop-Appeal
Bald darauf zeigen „Tagesschau“-Bilder wie Flugzeug- sowie Autoverkehre und ein AKW in Tschernobyl explodieren, während sich Menschen zu Tode amüsieren im Konsumrausch. Es folgen Clips über die Folgen: extreme Dürre, extreme Stürme, extremes Artensterben, extrem schmelzende Eisberge etc. Dazu referiert die Wissenschaftlerin über die Grenzen des Wachstums, gegen das kapitalistische Wertesystem usw.
Eine Unterrichtsstunde mit Agitprop-Appeal für Klimawandel-Anfänger ist diese theaterkünstlerisch eher schlichte Lecture Performance. Die Aufklärerin im Laborkittel schwingt sich aus stoischer Verbitterung zu großem Empörungsfuror auf. Denn: „Wir sind am Arsch.“
Aber es ist keine lebendige, psychologisch differenziert ausgearbeitete Figur zu erleben, sondern nur eine Sprechpuppe wohlbekannter Aussagen inklusive des kassandrischen Schmerzes, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und daraus abgeleitete Forderungen nicht gehört werden. Daraus leitet die Protagonistin eine moralische Pflicht zum Handeln ab, will ab sofort ein Hindernis im Leben anderer sein, um zumindest so Aufmerksamkeit für ihre, unser aller Not zu bekommen. Da überzeugt die Aufführung.
Sie möchte die gegenwärtige öffentliche Meinung drehen und nimmt eindeutig positiv Bezug auf die derzeit verlachten, verhöhnten, kriminalisierten Klimaaktivisten, die sich an Fahrbahnen kleben, um Autos und Flugzeuge am Starten zu hindern – oder Gemälde beschmieren, um zu zeigen, wie lächerlich die ihnen beigemessenen Millionenwerte sind, wenn wir gerade den Lebensraum der nächsten Generation ruinieren. Barz & Co. stellen eben nicht die Frage: Dürfen die das? Sondern sie verdeutlichen: Warum machen die das?
Nächste Aufführungen: 13. und 21. 12., jeweils 10.30 Uhr sowie 20. 12. und 10. 1., 20 Uhr, Oldenburgisches Staatstheater, Johannisstr. 6 Nächste Premiere im Technical Ballroom: 14 Tage Krieg, 5. 1., 20 Uhr, Performance mit 360°-Videoaufnahmen aus der Ukraine
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen