Dieselskandale und Folgen: Eine Chronologie des Betrugs
Regierung und Industrie wollen nun „den“ Dieselskandal entschärfen – dabei sind es längst mehrere Skandale. Ein Überblick.
Am 2. August planen Bundesregierung, Länder und Autokonzerne ein „Nationales Forum Diesel“. Um drohende Fahrverbote in den Städten zu vermeiden, wollen Politik und Industrie über Chancen reden, die Luftbelastung durch Diesel-Pkw schnell zu senken, ohne der deutschen Autoindustrie die Luft abzuwürgen. Die Aufregung, die mit dem Abgasbetrug von VW begann, hat spätestens mit den jüngst bekannt gewordenen, wahrscheinlichen Kartellabsprachen der deutschen Autoindustrie alle Hersteller erreicht. Doch es gibt nicht nur einen „Dieselskandal“. Bei dem Thema reiht sich seit Jahren ein Skandal an den nächsten.
VW betrügt, US-Behörden wundern sich
Im September 2015 gibt VW in den USA zu, mit einer verbotenen „Abschalteinrichtung“ in seinen Autos die Tests auf gesundheitsschädliche Stickoxide (NOx) zu manipulieren: Eine Software erkennt, dass das Auto auf dem Prüfstand steht und schaltet die Abgasreinigung ein. Auf der Straße dagegen blasen die Wagen das Mehrfache des Erlaubten in die Luft.
Betroffen sind in den USA 550.000 Fahrzeuge. Bis heute hat VW nicht offiziell zugegeben, dass es die gleiche Betrugssoftware auch bei 8,5 Millionen Autos in Europa verbaut hat, bietet aber Umrüstungen an. Und: Die kalifornische Umweltbehörde CARB hat den deutschen Autohersteller von „Clean Diesel“ nicht selbst des Betrugs „überführt“ – sie hat bei Zweifeln an der Abgasbilanz nur bei VW so lange nachgefragt, dass den Autobauern irgendwann nichts anderes übrig blieb, als den Betrug zu gestehen.
VW betrügt, deutsche Behörden wundern sich nicht
Von solcher Hartnäckigkeit sind das zuständige deutsche Kraftfahrtbundesamt (KBA) und das Bundesverkehrsministerium (BMVI) weit entfernt. Jahrelang gingen sie Hinweisen und Warnungen von Kritikern und Umweltverbänden wie der Deutschen Umwelthilfe (DUH) nicht nach. Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Dieselaffäre (PUA) wird klar, dass Umwelt- und Verkehrsministerium seit einem Jahrzehnt gewarnt wurden, es müsse illegale „Abschalteinrichtungen“ geben. Weil die Insider und Kritiker aber nicht den letzten Beweis liefern konnten, wurden die Behörden nicht aktiv. Die Gesetze ließen so eine Untersuchung gar nicht zu, argumentiert das KBA – nach Auffliegen des Skandals geht es dann aber bei der internen „Untersuchungskommission Volkswagen“ des BMVI ganz schnell mit genau solchen Nachmessungen.
Ein geplanter „Feldversuch“ von Umwelt- und Verkehrsministerium zur Untersuchung der Dieselabgase wurde 2007–2010 geplant, aber nie umgesetzt. Der Ausschuss zeigt auch: Für eigene Tests auf Prüfständen ist das KBA nicht ausgestattet. Softwareüberprüfungen sind den Testern unmöglich. „Wir sind doch keine Hackerbude“, heißt es vom TÜV Nord, der die Untersuchungen durchführt.
Dreckige Abgase bei allen anderen sind legal
Die Untersuchungskommission des BMVI legt am 22. April 2016 einen Bericht vor, der 53 Dieselmodelle auf ihre NOx-Werte prüft. Das Ergebnis: Fiat und Opel haben ähnlich wie VW geschummelt. Aber fast alle anderen Modelle schalten nach 20 Minuten, wenn erfahrungsgemäß ein Test auf dem Prüfstand vorbei ist, ebenfalls ihre Abgasreinigung aus. Sie nutzen dafür extensiv eine Ausnahme in der einschlägigen EU-Verordnung, die den Motor vor Schäden durch Ruß schützen soll. Wirksam ist deshalb der Schutz vor den giftigen NOx-Abgasen bei vielen Herstellern nur, wenn es zum Beispiel wärmer als 17 Grad ist – also in Deutschland nur in den Sommermonaten.
Zentrale Frage: Was bedeutet die EU-Regelung, die Abgasbehandlung müsse im „normalen Gebrauch“ funktionieren? Für das Ministerium sind diese Ausnahmen kein Problem, es verweist auf Schwächen der EU-Verordnung. Kritiker sagen, man dürfe die Ausnahme nicht zu Regel machen. Die Chefin der Umweltbehörde von Kalifornien, Mary Nichols, hat als Zeugin im Ausschuss eine einfache Definition: „Bei uns bedeutet das: in allen 50 US-Staaten zu allen vier Jahreszeiten“ – also eine Abgasbehandlung, die sowohl in der Wüste von Arizona als auch im Winter von Alaska funktioniert. Und nicht eine, die unter 17 Grad Celsius aussetzt.
Strafen und Entschädigungen nur made in USA
Für VW wird der Diesel zum Desaster. In den USA zahlt der Konzern (Jahresgewinn 2016: 7,1 Milliarden Euro) etwa 18 Milliarden Euro Entschädigung an Kunden und Händler. Dazu kommen 4 Milliarden Euro Strafen.
Aber die 8,5 Millionen VW-Kunden in Europa bekommen bislang kein Geld, nur Nachrüstungen für ihre Autos. Der Grund: „Das würde VW überfordern“, sagt Vorstandschef Matthias Müller. Würde Europa behandelt wie die USA, stünden dem Autokonzern etwa 340 Milliarden an Entschädigung und Strafen bevor. Der VW-Aufsichtsrat und niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil nennt im Frühjahr 2017 noch einen anderen Grund: In Deutschland sind Dieselautos nach wie vor verkäuflich, der Schaden für Kunden nicht erkennbar. Das ändert sich gerade. Experten erwarten bislang einen Wertverlust von 500 Euro pro Diesel-Pkw. Mindestens. Wenn Fahrverbote in den Städten greifen, sinkt der Wert der dreckigen Dieselwagen weiter.
Die deutsche Politik reagiert zunächst zahm. Das BMVI will nur, dass die Hersteller durch Nachrüstungen „den rechtsgültigen Zustand“ wiederherstellen. Von Bußgeldern ist nicht die Rede.
Verkehrsminister Alexander Dobrindt kommentiert laut Presseberichten den Vorschlag nach Sammelklagen von Verbrauchern in den Akten mit: „Lehnen wir ab!!! Komplett streichen.“ Trotzdem sammeln Anwaltskanzleien deutsche VW-Fahrer für eine Sammelklage. Deutsche Gerichte ermitteln inzwischen wegen des Verdachts auf Betrug gegen Manager von VW, Audi und Mercedes. Und die EU-Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung angestrengt, weil diese „ihre nationalen Bestimmungen über Sanktionen nicht angewendet haben, obwohl Volkswagen verbotene Abschalteinrichtungen verwendete“, teilt die Kommission mit.
Der saubere Diesel ist machbar
Es gibt Wagen, die die strikten Diesel-6-Regeln auch auf der Straße einhalten. Eine groß angelegte Untersuchung von mehr als 250 Modellen durch die Testagentur Emission Analytics zeigte 2016 sechs Pkws, die sich an die Normen hielten: Einen BMW – und sechs Modelle aus dem VW-Konzern. Dazu kommen alle Autos, die die Konzerne in den USA bauen oder dorthin exportieren. Sie müssen die deutlich schärferen US-Regeln einhalten. Und schaffen das auch.
Die Ministerien des Bundes verweigern die Arbeit
Die deutlichen Hinweise auf mögliche Abgasbetrügereien stießen in den Ministerien für Verkehr und auch Umwelt jahrelang auf taube Ohren. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) erklärte im Untersuchungsausschuss, sie kenne das „Handbuch für Emissionsfaktoren“ ihrer Unterbehörde UBA nicht – dort werden seit Jahren akribisch alle Indizien für den Betrug aufgelistet. Das BMVI wiederum blockiert seit Jahren eine „blaue Plakette“, um neuere Dieselfahrzeuge von den alten Stinkern zu unterscheiden. Mit der Plakette ließen sich wahrscheinlich vor Gericht die Fahrverbote umgehen, die ab nächstem Jahr in deutschen Innenstädten drohen. Die Plakette wird von Dobrindt verhindert – den Ärger haben die Kommunen, die aufgrund von Klagen der Umweltverbände Fahrverbote für ihre Straßen erlassen müssen.
Neue Regeln gleich verwässert
Bislang werden die Autos nach völlig unrealistischen Bedingungen auf einem Prüfstand nach dem sogenannten NEFZ-Zyklus getestet. Ab Herbst 2017 wird der abgelöst durch den WLTP, der deutlich näher an der Realität ist – auch wenn er immer noch nicht das reale Fahrverhalten abbildet. Nach den neuen Testbedingungen dürfen Neuwagen nur noch 80 Milligramm (mg) NOx pro Kilometer ausstoßen, was die Hersteller vor Probleme stellt. Deshalb hat das EU-Parlament im Februar 2016 seine eigene Regel in einer knappen Kampfabstimmung – gegen die Warnung seines eigenen Rechtsausschusses – gleich wieder verwässert. Nun gilt bis 2020 ein „Konformitätsfaktor“ für die NOx-Emissionen, der genau das Gegenteil von Konformität, also der Gesetzestreue, bewirkt: die Werte dürfen mit dem Faktor 2,1 multipliziert werden und gelten immer noch als erreicht. So dürfen die Diesel statt 80 nun 168 mg/km ausstoßen, ab 2020 dann 120 mg.
Grenzwerte zum Husten
Der NOx-Grenzwert liegt bei 80 Milligramm pro Kilometer. Im Schnitt stoßen die Autos in Europa nach einer Studie der Organisation ITTC von 2014 allerdings siebenmal so viel aus wie der Grenzwert zulässt – also etwa 560 mg. In Deutschland ist die Belastung sogar noch höher, hat das Umweltbundesamt 2017 berechnet: Im Schnitt 767 mg/km fanden die Experten, als sie unter realistischen Bedingungen Daten erhoben.
Die große Koalition glaubt an Fake Facts
Niemand fällt tot um, wenn er NOx einatmet. Aber Kinder, Alte und Allergiker können dabei unter Reizung der Bronchien und Atembeschwerden leiden. Die EU-Umweltbehörde EEA schätzt nach epidemologischen Studien, dass diese Luftverschmutzung jedes Jahr in Europa zu 70.000 vorzeitigen Todesfällen beiträgt, in Deutschland 10.000. Diese wissenschaftlichen Annahmen stellt die Mehrheit von CDU/CSU/SPD im Untersuchungsausschuss in Frage: Es gebe „keine toxikologisch bedenklichen CO2-Werte in öffentlich zugänglichen Bereichen“ heißt es im Abschlussbericht des Abgasuntersuchungsausschusses. Eine Epidemologin, die als Zeugin ausgesagt hatte, fühlt sich deshalb von den Parlamentariern falsch zitiert, der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), ein Beratergremium der Bundesregierung, protestiert: „Stickstoffoxide erweisen sich in toxikologischen und umweltepidemologischen Studien zweifelsfrei als gesundheitsgefährdend.“
Verkehrsministerium segnet CO2-Tricksereien ab
Ein Nebenprodukt der Dieselskandale ist die Debatte um den Spritverbrauch. Beim offiziellen NOx-Test des BMVI 2016 untersuchten die Experten auch das Klimagas CO2, das aus den Motoren kommt. Ergebnis: Viele Autos liegen mehr als 10 Prozent, manche bis zu 36 Prozent über ihren Zulassungswerten. Das Ministerium bestreitet gegenüber der Öffentlichkeit, dass seine eigenen Tests aussagekräftig sind und lässt ein Jahr lang nachmessen. Im Juni 2017 das Ergebnis: Bis auf zwei Modelle erreichen alle Autos ihre CO2-Werte. Der Grund: Das BMVI hat für die Nachmessung alle legalen Tricks der Hersteller akzeptiert: Autos aufwärmen, den Rollwiderstand optimieren, eigens geschulte Fahrer einsetzen, Klimaanlagen und Lichtmaschinen ausstellen. Die Kommission selbst zweifelt am Verfahren. Die „gesetzlichen Regelungen gewähren den Herstellern hinsichtlich der Messrandbedingungen einen zu großen Toleranzbereich“, heißt es im Bericht.
Steuergeschenke für Diesel
Trotz seiner Probleme wird Dieselkraftstoff kräftig vom Staat gefördert. Durch die geringere Steuer auf Diesel entgehen dem Staat jedes Jahr 9,5 Milliarden Euro, hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen erklärt. Um so viel höher lägen die Einnahmen, wenn Diesel wie Benzin versteuert würde. Seit 1990 wären das 254 Milliarden, auf die der Fiskus verzichtet – doch der definiert das nicht als Subvention. Damit werde nur ausgeglichen, dass Dieselfahrer mehr Kfz-Steuer bezahlten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen