Kunst aus der Sprühdose: Wie aufgeladen ein gesprühter Strich sein kann
Die Ausstellung „Graffiti“ im Museion Bozen folgt den Verbindungen von Sprühfarbe, Kunst und öffentlichem Raum und entdeckt unbekannte Pionierinnen.

Fsschhhhhh… – so klingt der längere, gleichmäßige Strahl einer Sprühdose. Sprühfarbe verfügt über außergewöhnliche Eigenschaften. Das Treibgas zerstäubt den Lack zu einem feinen Nebel, der eine glatte, nahezu streifenfreie Oberfläche erzeugt – und das bei hoher Deckkraft. Die Farbe haftet auf nahezu allen Materialien.
Bereits in den 1920er Jahren setzte General Motors serienmäßig die Spritzlackierung ein, die mit einer Druckluftpistole aufgetragen wurde. Die Farbe trocknete in weniger als zwei Stunden auf den Karosserien, was einen enormen Produktivitätsschub gegenüber den deutlich langsamer trocknenden Öllacken brachte. Diese industrielle Innovation wurde zu einem wichtigen Medium auch für Künstler:innen. Die Ausstellung „Graffiti“ im Museion in Bozen betrachtet die Aneignung der Sprühfarbe aus der Perspektive der bildenden Kunst.
Hedda Sterne ist eine Pionierin unter den 60 Künstler:innen der Schau. Ihr 1955 entstandenes, titelloses Leinwandbild zeigt ein Geflecht aus geometrischen und organischen Linien in Rot-, Grün- und Schwarztönen – eine Vedute von New York, in der Brücken und Gerüste das urbane Gefüge formen.
Noch bevor die Stadt selbst zur kolossalen Leinwand für Graffitikünstler:innen wurde, porträtierte Sterne sie in Sprühfarben und erweiterte so das gestisch-emotionale Vokabular des Abstrakten Expressionismus um eine Technik ohne Pinsel, ohne direkte Berührung der Leinwand.
„Graffiti“. Museion Bozen, Italien, bis 14. September, ab 2026 im Centraal Museum Utrecht
Auch Charlotte Posenenske verwendete Sprühfarbe. Und sie nahm damit den subjektiven Gestus in der Malerei konsequent zurück. Ihre in Bozen zu sehende, titellose Papierarbeit aus den Jahren 1965 und 1966 entstand mithilfe einer Sprühpistole, blaue und rote Streifen setzte Posenenske damit auf weißem Grund. Die weichen Farbverläufe, durchzogen von feinem Sprühnebel, erzeugen an den Überlappungen violette Töne und eine körnige Oberfläche.
Der Charakter industrieller Produkte
Damit formulierte Posenenske bereits ihr Anliegen, variable, einfache und reproduzierbare Kunstwerke zu schaffen, die den objektiven Charakter industrieller Produkte besitzen, wie es bei ihren bekannten Vierkantrohren besonders deutlich wird. Ihre unpersönliche Kunst ist ein Gegenentwurf zu Individualismus und Geniekult, 1968 sollte Posenenske den Kunstbetrieb verlassen und sich fortan einem Soziologiestudium und sozialen Projekten widmen.
Nicht weit von Posenenskes gesprühten Streifen wird in der Ausstellung eine völlig gegensätzliche Bildlogik sichtbar. Denn hier tritt der Künstler:innenname in monumentalen Buchstaben hervor, die aussehen wie der genietete Stahl einer Eisenbahnbrücke: Blade. Ab Mitte der 1970er Jahre hatte der Graffitikünstler in New York City Züge mit diesem Alias großformatig besprüht. Mit seiner ausgestellten Arbeit „Infinitive Paradise“ von 1984 übertrug Blade die Ästhetik der Straße auf die Leinwand – und in die weißen Säle der Galerie.
Denn während in den 1980ern die Metropolitan Transportation Authority Graffiti aus dem Stadtraum entfernte, fanden sie nunmehr Eingang in den Kunstbetrieb. Mit Blades Ego-Lettern beginnt auch in der Bozener Ausstellung der Abschnitt „Painting Graffiti“ mit Leinwandarbeiten von zentralen Protagonist:innen der New Yorker Graffiti-Szene. Daze, Futura 2000, Quik, Lee Quiñones, Rammellzee, Seen, Dondi White und Zephyr sind hier versammelt. Und die New Yorker Kultfigur Keith Haring.
Christenkreuze als Waffe
Harings wandfüllendes Bild sieht mit seinen knalligen Farben auf gelbem Grund nur auf dem ersten Blick heiter aus: Harings charakteristische Umrissmännchen werden darauf von Christenkreuzen aufgespießt oder hauen mit Schlagstöcken bemannt auf einen riesigen Picasso-artigen Stier ein.
Einmal in der Galerie ausgestellt, wandelte sich die Kunst der Graffiti. Schließlich musste sie hier nicht mehr in den Wettstreit um die wenigen Flächen auf der Straße treten, aus Sicherheitsgründen in Eile und anonym angefertigt werden oder die Dimensionen der gesprühten Bilder an den Flächen der Züge orientieren. Das sieht man in dieser Ausstellung.
Man sieht aber auch – und das ist die interessante These dieser Schau – wie eine in die Galerien eingekehrte Graffitikunst in den 1980er Jahren die bildende Kunst veränderte – von Malerei über Skulptur bis hin zur Performance. Die Sprühfarbe, die zunächst ab den 1950ern die malerische Geste entpersönlichen sollte, erhielt nunmehr durch das Graffito eine widerständige, subversive Konnotation und machte zuweilen auch etwas Gesellschaftliches sichtbar, das sich sonst im öffentlichen Raum austrägt.
Heike-Karin Föll etwa sprüht eine einfache schwarze Linie auf weißem Grund und fragt dabei, wie genderspezifisch schon solch ein minimaler Tag aufgeladen sein kann. Und Maggie Lee überlegt mit einer simpel gesprayten Linie auf der Treppenbrüstung, was die sozialen Grenzen zwischen Hoch- und Subkultur sein können. Die Ausstellung gibt Einblick in eine komplexe und bisweilen kaum erschlossene Kunstgeschichte der Sprühfarbe und zeigt, wie eng sie mit einer städtischen Bildpraxis verwoben ist.
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