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Die verunsicherte GesellschaftIch, ein Patriot?

Kommentar von

Dennis Chiponda

Deutsche Identität ist ein ewiges Problem. Ein Ossi of Colour macht demokratiefeste Vorschläge, wie wir wieder einiger werden. Ziehen die Linken mit?

Deutscher Patriotismus, bunt, fröhlich, demokratisch und mit Augenzwinkern – geht das? Foto: Anja Weber-Decker/plainpicture

V or Kurzem moderierte ich in Radeberg eine Veranstaltung. Ein älterer Herr sprach besorgt über den Verfall Deutschlands. Früher war das Leben stabiler und unbeschwerter. Die Parteien hätten versagt, meinte er, und fragte, ob die AfD eine Alternative sei? Ich atmete durch und antwortete ruhig: Das Wahlprogramm der AfD sei genauso neoliberal wie das der CDU, verwalte den Status quo und bedeute soziale Einschnitte. Wenn er mit dem Status quo unzufrieden sei, ändere die AfD daran wenig. Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er wirkte verzweifelt und verletzt. Die Situation lässt mich nicht los.

Woher kommt diese Verletztheit und Verunsicherung, die ich oft bei weißen Deutschen wahrnehme – und das, egal ob links oder rechts?

Sie erinnert mich an meine Jugend, geprägt von der Suche nach Zugehörigkeit und Identität sowie der Anfälligkeit für Manipulation. Haben wir als Nation diese pubertäre Phase der Selbstfindung etwa nie überwunden?

Davon zeugt auch die Stadtbild-Debatte, ausgelöst durch Friedrich Merz bei einem Termin in Brandenburg. Er sagte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Wenn wir ein Problem seien, nur weil wir nicht weiß sind, ist das eine nationalistische Tendenz. Das Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung definiert Nationalismus als eine Ideologie, die die Merkmale der eigenen ethnischen Gruppe überhöht, als absolut setzt und in dem übersteigerten Verlangen nach Einheit von Volk und Raum mündet.

Die einfachen Lösungen

Wie verunsichert ist unsere Gesellschaft, wenn sie Konformität braucht, um sich selbst zu erkennen? Liegt das daran, dass wir selbst nicht wissen, welche Werte unsere Gesellschaft ausmachen?

Und dann sind wir wieder bei einfachen Lösungen für Selbstvergewisserung. Nicht weiß? Nicht deutsch? Laut der Bundeszentrale für politische Bildung (2023) umfasst Nationalbewusstsein das Wissen über Zugehörigkeitskriterien, nationale Symbole und gegenseitige Erwartungen zwischen Individuum und Nation. Wobei Nationalbewusstsein und nationale Identität synonym verwendet werden können. Es sind also keine angeborenen Merkmale, sondern erlernbare. Damit kann auch jeder Mensch deutsch werden.

Aber wie soll diese nationale Identität entstehen, wenn verschiedene Gruppen in diesem Land immer wieder gedemütigt werden? Was ist eigentlich deutsche Identität? Der deutsche Philosoph Peter Trawny erklärt Adornos Sicht zu der Thematik so: Es gibt keine einfache, feststehende deutsche Identität. Stattdessen steht sie für einen ständigen Wandel und eine Nicht-Identität. Sie ist geprägt von einem schmerzlichen Bruch durch die Schoah und einem nie zu heilenden Riss. Deutsche Identität bedeutet, sich immer wieder kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich von belasteten Traditionen abzugrenzen. Diese Unsicherheit macht viele Heimatgefühle kompliziert.

Wir mussten uns immer wieder neu erfinden. Vom Flickenteppich der Fürstentümer über Kaiserreich, Weimar, NS-Zeit, Teilung bis heute. Gerade in Zeiten, in denen das europäische goldene Zeitalter versiegt, brauchen Menschen eine Identität, die Halt gibt. Vor allem im Land des Wirtschaftsmärchens kann man schlecht mit Unsicherheiten umgehen. Nach 1989 hätten wir eine inklusive deutsche Identität mit allen gesellschaftlichen Gruppen entwickeln müssen. Doch es gab keine Vereinigung auf Augenhöhe, sondern wieder den Drang nach Konformität. Diese verpasste Chance nutzte die Rechte. Die Linke überließ das Feld ohne Gegenangebot.

Konstruktive Patrioten

Während der Recherche entdeckte ich das Konzept von Jan Christopher Cohrs: „konstruktive Patrioten“. Das sind Menschen, die ihre Heimat lieben, andere nicht abwerten, demokratische Werte vertreten und kritisch den Staat beobachten. Sie halten die Gesellschaft zusammen, weil sie ihr Umfeld lieben und sich um dieses kümmern. Ich erkenne mich darin wieder.

Als Ossi of Colour bin ich mit Heimat, Toleranz und Demokratie verbunden. Ich liebe den Osten, sehe ihn aber auch kritisch. Für mich ist der Osten kein exklusiver Raum, sondern offen für alle, die die Regeln achten und anpacken. Auf Veranstaltungen merke ich, dass Menschen, die anders denken, oft meine Heimatgefühle teilen und überrascht sind, wie ähnlich wir sein können.

Ich, ein Patriot? Fühlt sich komisch an. Ich weiß, wie Deutsche, vor allem Linke, darauf reagieren. Aber ich darf freier denken als viele andere.

Das liegt daran, dass demokratische Grenzen für mich klar sind. Denn würde ich sie verlassen, würde es mir und meinen Liebsten schaden. Und das ist mein Problem mit dem Konzept. Aufgrund mangelnder Aufarbeitung der Geschichte sind die Grenzen für viele nicht eindeutig. Denn die Folge von Merz’ Aussage tragen am Ende Menschen wie ich und nicht unserer Kanzler. Mein Vorschlag also: Lasst uns der aktuellen Nicht-Identität eine demokratiefeste, deutsche Identität als Angebot entgegenstellen. Dazu müssen wir als Linke die Möglichkeiten schaffen, offen darüber sprechen zu können.

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13 Kommentare

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  • Und der - Justav - “einen hatten wir“ (Tucho) sollte dazu nicht fehlen! Newahr



    Auf das Ansinnen - das zweite Mal als Bundespräsident zu kandidieren?‘



    “Auch nicht aus Liebe zu Deutschland?“



    “Ich liebe meine Frau und nicht den Staat.“



    🤖 Der Satz wurde 1969 als Motto für sein Auftreten gewählt, welches durch die Aussage ergänzt wurde „Die eigentliche Gefahr für den Menschen ist nicht mehr die Natur, sondern der Mensch selbst“, so Zeit Online.



    Normal

  • Eyeyey. Ganz schwieriges Thema. Insbesondere für Deutsche.



    Oscar Wilde: "Patriotismus ist die Tugend der Boshaften."



    Es ist sehr schwer, stolz auf dieses Land zu sein. Patriotisch. Teil der großen Masse sein zu wollen. Oder?



    1918 verbockt.



    1933 das weggeworfen, war vom Verbockten noch übrig war. Und noch viel schlimmer.



    Bis 1989 war wenigstens Ruhe.



    Danach? Hmm. Sind die meisten nicht eher stolz Deutsche zu sein, statt dankbar, die Chance auf eine Demokratie zu haben? Andere gleich behandeln zu können?



    Ich bin zwar gern in der Masse unsichtbar, aber nicht weil ich die Tugenden der Masse übernehmen wollte.



    Ich denke, deutsch zu sein, heißt sich überall wohler zu fühlen, als in D.

    • @Nansen:

      Aber eigentlich: Wer braucht Patriotismus und warum?

  • Für mich gehört jeder dazu, der fest auf dem Boden der Demokratie steht, die Regeln achtet, die deutsche Sprache spricht und für Religionsfreiheit ist.



    Alles andere ist Pillepalle.

  • May be & Schon! But.

    *Halle/Saale “noch bei Adolf“ - aber schon unter den Ami, seh die Russen kamen. TipVopo:



    Getürkte Familienzusammenführung -



    Ohl & Großes Bruderherz 48 => Lübeck -



    Rest 1951 dito aber getrennte Wohnungen.



    Hausbau (Rest)Volksschule - mehrheitlich polnisch russisch lettisch 🐈‍⬛🐈‍⬛🐈Museum Abi.



    Studium nach math.phys. - Jura/Diss👎/Ref



    “Enne von denne Linge“ Gelle

    1978 plus 30 VerwR Abg/Köln •



    Sorry - Identität? Mach Bosse!



    Mütterlicherseits - bis zu den Freigeistern Dilettanten des 19.Jahrhunderts



    Bäuerliche/Väterlicherseits - dank Tipp von kanadischen NamensVettern - Name keltisch - reicht via Hrzt. Lauenburg - Münsterland - häufig in den Niederlanden - bis zu den Tribokern zurück.



    Die sich nach Niederlage gegen Caesar - sich auf die Socken 🧦🧦 machten



    a 🥱 a 🥱 Sorry - Identität? Mach Bosse!

    Mir: Überflüssig wie ein Kropf •

    • @Lowandorder:

      Was will der Dichter damit sagen?

      • @Alberta Cuon:

        🤖 …geht mir am Arsch vorbei

  • Dankeschön! Wer wollte da - von ,links‘ bis ,Mitte‘ - ernsthaft widersprechen?! Und wenn die beschriebene Haltung jetzt auch als ,patriotisch‘ gelten soll, warum denn nicht!? Auch ,rechts der Mitte‘ finden sich dann vielleicht Möglichkeiten der Identifikation.



    Alle ins Boot holen - schöne Vorstellung, macht auch lebensfroh!

  • Es sei mal an das sog. *Sommermärchen* erinnert..Motto:

    "DIE WELT ZU GAST BEI FREUNDEN"..







    Es wird wohl nicht Viele geben, die dieses Ereignis nicht als großen Gewinn für dieses Land empfunden haben.







    Und heute: Stadtbilddebatten, "Wer kann am besten Abschieben", Bürgergekdempfänger als Sozialschmarotzer, usw..usw.







    Erinnern wir uns lieber:

    *wer gibt dem wird gegeben*..



    *Größe kommt von Großzügigkeit*.



    *wie man in die Welt ruft, so schallt es zurück*







    Denn wir waren da echt schon mal weiter.







    Wer aber meint durch Ausgrenzung Identität zu stiften hats nicht verstanden. Wer meint (kollektiver) Egoismus führe zu Reichtum, hats noch weniger verstanden. Und wer meint es mache Glücklich sein Herz vor allem Fremden zu verschließen hat gar nix verstanden.







    Patriotismus heißt sein Land zu lieben..und dafür muß man zuerst die Menschen lieben..und zwar alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe oder kulturellen Identität.







    Also tun wirs einfach: lieben wir unsere Nächsten..lieben wir die Menscheit..lieben wir uns selber. Weil dann haben wir wirklich Grund stolz zu sein: auf uns..und unser Land..



    ...so geht wahrer PATRIOTISMUS..

  • // Ossi of Colour



    .



    Cool, könnte von Dieter Nuhr sein.

  • Einfach mal eine zeitlang in einem anderen Land leben, z. B. wie wir in Spanien. Alles was man dort vermisst ist deutsche Identität: Biergärten, Weihnachtsmärkte, Kneipen, das Essen, ... .

  • "Ossi of Colour" ist natürlich goil.



    Und dass das einem rassistischen Kanzler nicht ins Stadtbild passt,



    ist leider auch Tatsache...

  • Der alte Herr meinte "Früher war das Leben stabiler und unbeschwerter."



    Darauf antwortet der Autor mit allen möglichen Überlegungen zu Nationalbewusstsein, Patriotismus und Identität. All diese Punkte sind sicherlich wichtig.



    Aber er vergisst einen wichtigen Punkt, der für viele den größten Beitrag dazu leistet, dass das Leben nicht mehr so stabil und unbeschwert ist und Menschen Angst vor der Zukunft haben: Die Wirtschaft bzw. der Kapitalismus.



    Die Wirtschaft versucht immer mehr aus den Menschen herauszuquetschen, um immer mehr Profite erzielen zu können. Sie macht dies sehr erfolgreich. So dass alleine die 500 reichsten Deutschen ihr Vermögen von 2020-2024 um 500 Mrd. vergrößern konnten (laut Manager Magazin). Während die ärmeren 70% kaum über die Runden gekommen sind und deshalb immer mehr Angst vor der Zukunft haben. Und selbst der Staat so wenig Geld hat, dass jedes Jahr die Aufstellung des Budgets einer Quadratur des Kreises gleicht. Wenn wieder mehr Stabilität und mehr Hoffnung statt Angst in die Gesellschaft kommen soll, so müssen die enormen Profite des Kapitalismus gerechter verteilt werden. Z.B. indem ein Defizit über 3% automatisch von den Reichsten bezahlt werden mus