: Die unterbrochene Revolution
OCCUPY WALL STREETJa, es gibt sie noch, die Bewegung gegen die Gier der Banker und gegen das Establishment.Was wird aus ihr? Wie steht siezum künftigen Präsidenten Trump?
AUS NEW YORK Ingo Arzt
Der Teufel findet an diesem Tag in New York wenig Beachtung. Die Stadt strömt an der Ecke der 42sten und 3rd Avenue in stoischer Hektik dahin, ein lauer, blauer Herbsttag liegt mittags über den Häuserschluchten von Manhattan.
Der Teufel, das ist Marnie Halasa, die das System anprangert – genau genommen die Großbank Wells Fargo. Sie posiert vor einer Filiale des Geldhauses, in rotem Kostümchen, mit Teufelshörnern auf den schwarzen Haaren, schwingt einen roten Dreizack vor ihrem Papphöllenfeuer auf dem Gehsteig.
Zwei Passantinnen wollen wissen, ob der Teufel Werbung für Halloweenkostüme macht.
„Nein. Das ist Occupy Wall Street.“
„Occupy was?“
„Wall Street.“
Ein Typ mit Dreadlocks, der an dem Eck Flyer für eine Pralinenladenkette verteilt, mischt sich ein und sagt: „Das waren doch die, die den Zuccotti-Park besetzt haben, wegen der Finanzkrise?“ Ja, genau die. „Mann, krass, die gibt’s noch?“
Ja, die gibt es noch. Es war ein Mittwoch im Oktober, als Marnie Halasa vor der Großbank Wells Fargo demonstrierte – und auch heute, nach dem Wahlsieg Donald Trumps, gehen überall Leute auf die Straße. Viele von ihnen sind durch Occupy politisiert worden.
Der Höhepunkt der Occupy-Bewegung liegt jetzt fünf Jahre zurück, später kamendie Black-Lives-Matter-Proteste dazu. Beide wirkten wie ein Jungbrunnen für die amerikanischen Graswurzelbewegungen, ein Aufschrei der offenen Gesellschaft. Occupy hatte damals über 1.000 Gruppen im ganzen Land. Im Wahlkampf haben viele von ihnen zum Protest gegen Trump aufgerufen. Allein der Facebook-Seite von Occupy in New York folgen fast 900.000 Menschen.
2011, das war das Jahr der Hoffnung, als es noch keinen Krieg in Syrien oder der Ukraine gab, keinen Brexit, keinen Trump und keine autokratische Türkei. 2011 begann mit dem Arabischen Frühling, dem Sturz der Autokraten im Nahen Osten.
In den USA besetzten Aktivisten am 17. September jenes Jahres den kleinen Zuccotti-Park mitten in Manhattan. Sie nannten ihre Bewegung Occupy Wall Street. Es war, als hätten viele darauf gewartet, dass endlich mal jemand anfängt mit der Revolution, weil sich seit der Finanzkrise 2008 überhaupt nichts geändert hatte. Weil da immer noch eine Elite – das reiche Ein-Prozent der Gesellschaft – vor sich hin regierte.
Dann kam Occupy und es schien, als schlügen die Menschen friedlich zurück. „Wir sind die 99 Prozent“, war der Slogan in New York. Weltweit kopierten Menschen unterschiedlichster Herkunft die Idee, Zelte in einem wichtigen Park oder auf einem zentralen Platz in einer Großstadt aufzuschlagen, aus Protest gegen die Geldelite, um dann basisdemokratisch darüber zu debattieren, wie die Welt gerechter werden kann.
In mehreren Städten gab es am Wochenende Demonstrationen gegen den künftigen Präsidenten.
„Kein rassistisches Amerika“ und „Donald Trump muss weg“, riefen Tausende in Chicago. In Los Angeles und New York protestierten jeweils rund 10.000 Trump-Gegner. Auch in Washington gab es Proteste.
Trump twitterte derweil über seinen Wahlsieg: „Das wird ein großer Moment im Leben von ALLEN Amerikanern. Wir werden uns vereinen und wir werden gewinnen, gewinnen, gewinnen!“
Bei Protesten in Portland fielen am Sonnabend Schüsse. Laut Polizei und Augenzeugen war offenbar ein Streit Auslöser für die Gewalt.(afp)
Am 15. November 2011, vor fünf Jahren, räumte die Polizei den Park. Hier und da gab es dann noch weitere Proteste. Doch es wollte so scheinen, als sei der Frust tosend an die Banktürme von Manhattan gebrandet – und sei dann leise verflossen. Und heute, fünf Jahre später, streckt Donald Trump der Welt seinen erhobenen Daumen entgegen.
So war das wohl nicht gedacht.
Occupy ist häufig kritisiert worden: als postideologisches Happening reicher Kids, die auf einmal feststellen, dass sie trotz ihres Hochschulabschlusses keinen Job bekommen. Das Wirtschaftsmagazin Fortune warf Occupy kürzlich vor, mit ihrer Ablehnung, ja geradezu Feindschaft gegen das politische Establishment Trumps elitenfeindliche Rhetorik erst gesellschaftsfähig gemacht zu haben. Die Stärke der Bewegung, ihre Vielfalt, war zugleich ihre Schwäche. Ihr fehlten eine Führungsfigur und ein konkretes Programm. Dafür gab es zu viele unterschiedliche Meinungen. Jetzt ist die Wut auf das System – aufgesogen von rechts – umgemünzt in ein Amerika, in dem beide Kammern des Kongresses und der Präsident Republikaner sind.
Gescheitert ist die Bewegung wohl trotzdem nicht, sie hat sich in der Gesellschaft verbreitet. Man kann keinen Occupy-Sprecher danach befragen, weil daraus nie eine feste Organisation wurde. Aber viele Leute haben sich damals inspirieren lassen. Marnie Halasa, die Demonstrantin vor der Großbank in Manhattan, zählt dazu. Die 50-Jährige, die eine Skater-Schule betreibt, ist inzwischen so etwas wie eine Berufsprotestlerin geworden – auch weil sie, wie sie sagt, die Performance und das Spektakel liebt.
Da kann sie die Trump-Anhänger sogar verstehen
Am Telefon nach Trumps Wahl befragt, findet sie die Namen, die gerade für sein Kabinett kursieren, „zum Kotzen“. Sie erzählt von einem New York, das am Morgen nach Clintons Niederlage schweigsam und bleiern war, eine Stimmung fast wie nach 9/11. Aber dann fängt sie sich wieder: „Die Demokraten haben doch nichts für die Mittel- und Unterklasse gemacht. Jetzt zahlen sie dafür. Wahrscheinlich müssen wir das jetzt einfach vier Jahre haben“, sagt sie.
„Das“, also Trump, ist für sie der Katalysator, der Tiefpunkt, der dann zu einem echten Aufbruch führt. Clinton sah sie nie als Alternative. Marnie Halasa, die Trump hasst, sagt Dinge, die auch von ihm stammen könnten: dass Clinton korrupt sei, dass die Politikerin die Hoffnung der linken Demokraten, Bernie Sanders, zerstört hätte. „In ihrem Frust kann ich die Trump-Anhänger sogar verstehen“, sagt sie.
Zurzeit steht Marnie jeden Tag als Tiger verkleidet vor dem Trump Tower, um gegen den neuen Präsidenten zu demonstrieren. Damit ist sie eine von vielen Occupy-Bewegten, die jetzt gegen Trump vorgehen und sich durch die eingespielten Netzwerke von damals organisieren.
Das Magazin The Atlantic schreibt Occupy vor allem zu, den Fokus der öffentlichen Debatte deutlich hin zu Fragen sozialer Ungerechtigkeit verschoben zu haben. „Wohlstand ist nicht nur für CEOs und Hedge-fonds-Manager da. Demokratie ist nicht nur für Milliardäre und Konzerne.“ Das stammt aus einer wirtschaftspolitischen Rede von Hillary Clinton. Im Vorwahlkampf der Republikaner sprach Jeb Bush von den Problemen der ungerechten Einkommensverteilung, ebenso wie Ted Cruz und Marco Rubio.
Die Diskussionen über soziale Ungerechtigkeit trugen dazu bei, dass eine ganze Reihe von US-Bundesstaaten in den letzten Jahren einen eigenen Mindestlohn beschlossen haben, höher als der nationale von 7,25 Dollar die Stunde.
Auch der Erfolg von Bernie Sanders hat mit Occupy Wall Street zu tun. Der linke Senator aus Vermont, der sich „demokratischer Sozialist“ nennt, hat bei den Vorwahlen der Demokraten Hillary Clintons Kandidatur gefährdet. Occupy-Gruppen in New York und anderen Teilen des Landes haben ihn offen unterstützt. Sanders’ Sprecher sagte gegenüber CNN, erst Occupy habe das politische Klima so verändert, dass Sanders’ Botschaften – Banken zerschlagen etwa – einen so großen Resonanzboden gefunden hätten.
Einige haben sich, inspiriert vom revolutionären Gewusel im Zuccotti-Park, ganz praktischer Arbeit zugewendet. Sie engagieren sich für Obdachlose oder, unter dem Stichwort „Occupy Sandy“, mobilisierten 60.000 Helfer, um den Opfern des Hurrikans zu helfen. Marnie Halasa sagt am Telefon, die Proteste gegen Trump jetzt werden erst der Anfang sein.
Die Anti-Trump-Bewegung sieht sich jetzt der gleichen Frage gegenüber wie alle sozialen Proteste im letzten Jahrhundert: Werden sie unterdrückt oder kriminalisiert, werden Ausschreitungen inszeniert, damit die Polizei umso härter zurückschlagen kann?
Marnie glaubt nicht daran, dass Trump den Staat umstürzt. „Wir werden weiter demonstrieren können. Er wird die Verfassung nicht antasten“, sagt sie – um dann zu erzählen, dass nun schwere Trucks Stoßstange an Stoßstange rund um den Trump Tower in New York stünden, da sei kein Durchkommen. Wer davor stehe und protestiere, werde vertrieben, stehenbleiben dürfe auch niemand – angeblich wegen Verkehrsgefährdung.
Ist er das schon, der erste Schritt zur Abschaffung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, auf freien Protest? „Quatsch“, sagt Marnie Halasa, „nur keine Panik. Das ist die alltägliche Polizeischikane. Wir leben in Amerika, das war hier schon immer so.“
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