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Die steile TheseSchulen müssen offen bleiben

Gastkommentar von Kristina Schröder und Dieter Janecek

Die Zahl der Corona-Fälle steigt. Aber der Regelbetrieb von Schulen und Kitas muss Priorität haben.

Es wird Ansteckungen in Schulen geben, doch dieses Risiko sollte die Gesellschaft eingehen Foto: dpa

D ie Zahl der Corona-Infektionen steigt wieder, Einschränkungen werden kommen. Der Regelbetrieb von Schulen und Kitas sollte dabei oberste Priorität erhalten. Es ist klar: Eine hundertprozentige Sicherheit wird es auch mit den besten Präventiv- und Hygienemaßnahmen nicht geben. Ein gewisses Risiko kann und muss sich jede Gesellschaft leisten – die Frage ist, wer wie viele Einschränkungen hinnehmen muss.

11 Millionen Kinder in Deutschland sind unter 14 Jahre alt. Sie brauchen Bildung, und sie brauchen Betreuung. Statistisch gesehen stehen hinter ihnen 15 Millionen Väter und Mütter oder Sorgeberechtigte, von denen 80 Prozent Beschäftigte sind.

Schul- und Kitaschließungen haben damit dreifach fatale Folgen: Sie nehmen unseren Kindern Bildung. Dies lässt sich weder nachholen noch mit staatlichen Zuschüssen abfedern. Sie sind eine massive Belastung für Eltern, insbesondere für Alleinerziehende. Mitarbeiter, de facto vor allem Mitarbeiterinnen, die ein halbes Jahr lang nur unzureichend einsetzbar waren, geraten schnell ins Abseits, auf sie wartet kaum die nächste Beförderung. Die millionenfach ausgefallene Arbeitszeit schwächt unsere Volkswirtschaft.

Dieser immense Schaden wurde in Kauf genommen angesichts der exponentiellen Verbreitung des Virus im März und der schrecklichen Bilder aus der Lombardei. Spätestens seit April verdichteten sich aber die Hinweise darauf, dass Schulen und Kitas nicht wie anfangs angenommen Treiber des Corona-Infektionsgeschehens sind. Das ist bis heute der Stand: Je jünger die Kinder, desto geringer sogar die Ansteckungsgefahr, die von ihnen ausgeht, so inzwischen die Mehrheitsmeinung der Forschung. Und heute wissen wir, dass das Risiko gesunder Kinder, aufgrund einer Ansteckung schwerwiegend zu erkranken, bei nahezu null liegt.

Dieter Janecek

Dieter Janecek sitzt seit 2013 für die Grünen im Bundestag. Er ist Sprecher für digitale Wirtschaft und Industriepolitik.

Doch blicken wir einmal zurück auf die Prioritätensetzung in Deutschland zu Beginn der Pandemie. Zeitgleich mit den ersten Schulschließungen Anfang März waren Massenveranstaltungen mit mehreren hundert Gästen noch zulässig. Die Skiferien konnten trotz bereits bestehender Expertenwarnungen ungehindert durchgezogen werden und Starkbierfeste bis tief in den März hinein stattfinden.

Kristina Schröder

Kristina Schröder war lange Bundestagsabgeordnete der CDU und von 2009 bis 2013 Familienministerin. Heute ist sie als Beraterin und Autorin tätig.

Und nach dem Lockdown? Waren wenige Länder so zögerlich wie Deutschland, eine umfassende Öffnung von Kitas und Schulen herbeizuführen. Die meisten europäischen Länder begannen ihre Öffnungen mit Schulen und Kitas, in Deutschland hingegen galt offenbar das Motto „Kinder und Frauen zuletzt“. Deutschland nahm diesen Sonderweg trotz drastisch sinkender Infektionszahlen bereits ab Mitte April und der zunehmenden empirischen Evidenz, dass Schulen und Kitas zu keiner Zeit Treiber des Infektionsgeschehens waren. Weltweit.

Stattdessen fand monatelang angeblich „Homeschooling“ in Deutschland statt. Echten digitalen Unterricht gab es kaum, kaum eine deutsche Schule kann mit der digitalen Ausstattung und Lehre etwa in den skandinavischen Ländern mithalten. Wenige gute Ausnahmen bestätigen die Regel, und hier müssen wir in den kommenden Wochen und Monaten deutlich besser werden. Doch digitale Bildung ersetzt nicht physische Nähe und Betreuung, insbesondere nicht für kleinere Kinder und solche mit erhöhtem Förderbedarf.

Diese Kriterien haben aber kaum eine Rolle gespielt, stattdessen ereilte und spaltete eine sonderbare Klassifizierung von systemrelevanten und nicht systemrelevanten Eltern (und damit Kindern) unsere Gesellschaft in dem monatelangen System der Notbetreuung. Bis die Gerichte diese ungerechtfertigte Ungleichbehandlung schließlich kippten.

Am Ende ging es um Prioritäten. Und darum wird es auch wieder gehen, sollten wir in Deutschland angesichts der Zunahme der Infektionen wieder mehr über Schließungen und Verbote sprechen müssen. Was ist uns wichtiger: Restaurants, Gottesdienste und Familienfeiern (alles Orte und Anlässe, an denen es nachweislich zu Multispreading kam) oder Schulen, Kitas und Jugendhilfeeinrichtungen? Sind wir als Erwachsene bereit, die Hauptlast der Pandemiebekämpfung zu tragen, oder bürden wir sie unseren Kindern auf? Verlangen wir von unseren Kindern, im Unterricht und selbst auf dem Pausenhof und damit in vielen Fällen acht Stunden lang ohne Unterbrechung Maske zu tragen, selbst wenn kein starkes Infektionsgeschehen vor Ort vorliegt? Oder sind wir bereit, Masken auch bei Familienfeiern und im Büro zu benutzen?

Kinder haben besondere Bedürfnisse, sie sind verletzlich und sensibel. Was in ihrer dichten Entwicklung versäumt wurde, lässt sich nur manchmal nachholen. Derzeit geht unsere Gesellschaft darüber ziemlich brachial hinweg. Sie erweist sich damit als so kinderfeindlich, wie viele es in den vergangenen Jahren immer wieder behauptet – und der Autor und die Autorin immer bestritten – haben.

Jede Gesellschaft muss während der Pandemie ein gewisses Risiko eingehen, sonst wären wir gar nicht handlungsfähig. Wir verfügen also über ein Risikobudget, über dessen Größe natürlich auch politisch und wissenschaftlich gerungen wird. Klar ist: Reisen und Familienfeiern haben in den vergangenen Wochen einen erheblichen Teil dieses Budgets verbraucht, Schulen und Kitas nicht. Fast alle Infektionen, die an Schulen in den vergangenen Tagen festgestellt wurden, wurden von außen, oft von Erwachsenen, in sie hineingetragen. In den Schulen selbst kam es kaum zu Ansteckungen, sie haben nicht nennenswert zum Infektionsgeschehen beigetragen.

Wahrscheinlich wird sich dies ändern. Es wird Ansteckungen auch innerhalb von Schulen und Kindergärten geben. Wir werden immer besser darin, mit diesen Ansteckungen umzugehen, Schnelltests könnten hierbei künftig noch entscheidend helfen. Und dennoch: Schulen und Kitas werden zum Infektionsgeschehen beitragen. Vermutlich nicht übermäßig, aber messbar.

Als Gesellschaft sollten wir diesmal bereit sein, das in einem gewissen Maß hinzunehmen. Weil wir erkannt haben, dass der gesamtgesellschaftliche Schaden, den die Schließung von Schulen und Kitas anrichtet, ungleich höher ist.

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7 Kommentare

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  • Zwischen den Zeilen wird im Artikel die Auffassung vertreten, Restaurantbesuche, Gottesdienste und Familienfeiern müssten nun mal zurückstehen (oder wenigstens mit Maske stattfinden), damit die Schulen und Kitas öffnen können und trotzdem das Infektionsgeschehen im Griff bleibt. Also ein größerer Teil des "Infektionsbudgets" für die Schulen und Kitas.

    Diese Forderung nach Einschränkungen deutlicher auszusprechen, hätte dem Artikel gut getan.

  • Wie nun ein "Regelbetrieb" definiert ist, und warum das gegen Organisationsformen mit Präsenzunterricht jenseits des Regelbetriebs zu bevorzugen ist, dazu schweigen die Autor*en.

    Für weniger Infektionsgefahr kann u.a. durch Epochenunterricht (weniger Wechsel der Lehrer), mit Kleinguppen (bubbles) innerhalb des Klassenverbands und durch deutlich verbesserte Schulwegsicherung (Tempo 20 von 7:30 bis 8:00 statt Schülern im ÖV) gesorgt werden.

  • Die hier angeführten Argumente sind leider weder im Vor- noch im Während-Corona-Schulalltag irgendwie relevant, weil im gesamten System die Ressourcen fehlen für ein chancengerechtes und inklusives Bildungssystem. Das weiß jeder, mit Sicherheit auch die Autor*Innen. Dazu aber kaum ein Satz. Und leider auch keine einzige Überlegung, was Schule überhaupt leisten kann und was z.B. die Eltern beitragen müssen, damit gute Bildung gelingt. Stattdessen das übliche Gewinke mit der mangelnden digitalen Ausstattung -- ein reiner Nebenkriegsschauplatz.



    So klingt das eigentlich nur wie ein schön verklausuliertes "Nimm mir meine Bälger ab!" Bei Familien, die jeden Euro brauchen, um durchzukommen, habe ich da Verständnis. Bei Besserverdienenden nicht. Für die nehme ich nur ungern ein "gewisses Risiko" in Kauf, das im übrigen realen Menschen tragen und nicht "die Gesellschaft".

  • Ein seltsames Verständnisvon Bildung. Hier wird schulische Anwesenheit mit Bildung und Glück der Kinder/Jugendlichen gleich gesetzt. Dabei hat es noch nie chancengleiche Bildungsangebote gegeben. Zumindest in den letzten Jahrzehnten nicht.

    In dieser Coronakrise müssen viele Menschen einen Preis bezahlen. Was die schulpflichtigen Kinder betrifft, so wurde das Augenmerk auf diese Kinder nicht durch die Gefahr zunehmender Bildungsdefizite gelegt, sondern durch die Probleme, die Eltern zumindest teilweise mit der Verwahrung ihrer Kinder hatten. Plötzlich wurde mehr als deutlich, dass die meisten Eltern hinsichtlich der Betreuung ihrer Kinder keinen Plan B hatten. Und es ging natürlich auch um Selbstverwirklichung und Karriere. Leidtragende waren i.d.R.Frauen und Kinder.

    Jahrzehntelang haben Eltern nichts unternommen gegen ein Bildungssystem, das in zunehmendem Maße den Anforderungen einer modernen digitalisierten Gesellschaft nicht gerecht wurde. Es gab so gut wie keine gut erprobte Lernsoftware mit allen notwendigen Begleitmaßnahmen wie Schulung des Lehrpersonals, curriculare Anpassung an die individuellen pädagogischen Ziele der Schule, keine technische Anpassung an moderne digitale Unterrichtsgestaltung, die Homeshcooling erst möglich macht usw. usw. usw.



    Trotz PISA und trotz deutlich sichtbarer Mängel hinsichtlich der schulischen Ausstattung und des teils erbärmlichen Zustandes der Schulgebäude haben auch Eltern es zugelassen, dass das Schulsystems immer mehr verrottete, weil die Schule in erster Linie als Aufbewahrungsanstalt mit Bildungsanspruch betrachtet wurde.

    Der Aufschrei bestimmter Eltern in der Coronakrise legte eigentlich nur die ganze Erbärmlichkeit unseres Bildungssystem offen. Bildung und Chancengleichheit war nie Thema gesellschaftlicher Diskussion, seit der gehobene Mittelstand zumindest den Eindruck hat, immer noch besser bedient zu werden als die Kinder in den sogen. Problemvierteln.

  • Keine steile These, sorry, alte Plattheiten. So wie Schule gerade im Moment stattfindet mit größeren Klassen denn je, mit weniger "Lehrkräften" denn je, mit syrrealen Masken- und Hygieneregeln, etc.) kann man nicht mehr von (auch vorher wenig vorhandener) Bildung sprechen.



    Von Bildungsgerechtigkeit schon gar nicht. Der angeblich sozialkritische Ansatz (Sozialschwache bzw. nicht Systemrelevante werden abgehängt) hingt hier. Da sich die KultusministerInnen wenig Arbeit gemacht haben in ihren Ferien ("Nach den Ferien Regelbetrieb!"), gibt es weder Plan B noch C, keine Entschlackung der Lehrpläne, keine Entzerrung der Stundenpläne, keine kleineren Lerngruppen – alles Maßnahmen, die einer sinnstiftenden pädagogischen Bildung entgegen kämen und von vielen Lehrkräften eigeninitiativ ausprobiert wurden für den Krisen- Präsenzunterricht. Nun aber wird Schule um so mehr wieder zum Handlanger eines fragwürdigen Frontalunterrichts im schnellen Aussiebverfahren. 60 % des Lernerfolgs wird der Beziehungsebene zwischen Lehrkraft und SuS zugesprochen, bis zu einer Gruppengröße von höchstens 17 Personen. Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten werden wieder abgehängt, die Lehrkräfte sind mehr denn je regel- und verwaltungstechnisch gefordert (Extra-Listen für die Gesundheitsämter, Unterschriften für den (nicht machbaren) digitalen Unterricht, Extra-Zeiten für das Händewaschen, Bestrafungsszenarien z.B. für das abschließende Kauen des Brotes ohne Maske.



    Wenn man/frau in Schule tätig ist, erkennt man sie kaum wieder: keine pädagogischen Konferenzen, keine Einführungen von Quereinsteigern, Hauptsache die Fassade stimmt.



    Schule als Aufbewahrungsort ist auf dem Durchmarsch und wird laut Autorin gut geheißen. Den Kindern aus manchen Schichten reicht das nicht, die finden jetzt schon wieder die Straße interessanter.

    • @Rumori:

      "Intelligentes Risikomanagement" - auch für Kitas u. Schulen = seit Monaten beschrieben und den Verantwortlichen sowie den Eltern- u. Lehererverbänden bundesweit mitgeteilt:



      KITA kanns / SCHULE schaffts ( s. Facebook).



      Oder Nachfrage unter didih432@gmail.com

  • Genau.

    (Sagt die Lehrerin, die HomeOffice mit zweifachem HomeSchooling (Schülerinnen + eigener Nachwuchs*) verbinden musste.)

    * K3 hat mir bei diesem einen Satz gerade 3x den Monitor ausgestellt.