Die politische Rolle des Kehlkopfs: Tiefere Stimme, höhere Position

Was könnte Annalena Baerbock erreichen mit dem Organ eines Sigmar Gabriel? Vielleicht gleicht KI ja bald die vokale Geschlechterungerechtigkeit aus.

Der Mund von Annalena Baerbock

Annalena Baerbock klingt nicht wie eine Nachtsendungsmoderatorin und gilt dennoch als erfolgreich Foto: Florian Gärtner/photothek/imago

Mein Respekt vor Politikerinnen, die von gängigen Körpernormen deutlich abweichen, ist parteiübergreifend. Das gilt umso mehr, da jede Häme im Internet millionenfach vervielfältigt und auch verewigt wird.

Die Mechanismen, die greifen, wenn eine gar-nicht-normschöne Frau die politische Bühne betritt, wurden schon oft beschrieben. Ich behaupte aber, dass sich – vermutlich gerade wegen der Spottlawinen in den sozialen Medien – der moralische Standard eher gefestigt hat, dass man Leute grundsätzlich nicht nach ihrem Äußeren zu bewerten hat. Noch nicht einmal Frauen in der Politik. Dieses Gebot gilt, selbst wenn es im Alltag gern und geifernd unterlaufen wird.

Was mich allerdings zunehmend wundert, ist, wie wenig über Stimmen geredet wird. Jeder weiß, dass Stimmen angenehm und unangenehm sein können. Tiefe Stimmen werden lieber gehört als hohe. Tiefen Stimmen wird mehr Autorität zugerechnet. Solche Gefühle und Reflexe entstehen in Millisekunden, ihnen ist mit Vernunft und Werten schwer beizukommen.

Doch statt dabei den Urskandal – dass Männer demnach einen ewigen Vorteil gegenüber Frauen haben – zu thematisieren, scheinen Stimmlagen die freimütige Urteilsfindung über Politikerinnen eher zu begünstigen: „Ich kann der nicht zuhören.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Menopause als politische Chance

Dabei sind Stimmen erst einmal das Produkt längerer oder kürzerer Stimmbänder und insofern ein Körpermerkmal wie dünnes, glanzloses Haar. Während jedoch die Auseinandersetzungen etwa über Angela Merkels Frisur inzwischen Regale füllen würden, ist die Rolle ihrer Stimme bisher wenig beschrieben.

Ein Sprachwirkungsforscher erklärte unlängst in dieser Zeitung, Merkels Stimme sei lange als „Kleinmädchenstimme“ bezeichnet worden, bis sie sich 2005 und 2006 durch die Menopause „deutlich abgesenkt“ habe (zur Erinnerung: Merkel wurde 2005 zur Kanzlerin gewählt). Erst von da an, so der Forscher, seien ihre Beliebtheitswerte gestiegen. Gleiches gelte für die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher.

Über Thatcher und die Frage, ob sie einen „Voice Coach“ beschäftigte, findet sich tatsächlich einige Literatur. Die vierte Staffel von „The Crown“ war der britischen Presse zuletzt Anlass für detaillierte Erörterungen, ob die Darstellerin Gillian Anderson den Thatcher-Sound richtig hinbekommen habe. Als unstrittig gilt dabei, dass Thatcher erst aufstieg, als sie ihre Stimme auf wählbares Niveau gesenkt hatte.

Nun machen zwei Regierungschefinnen noch keine Statistik. Doch möchte ich es gern als Fortschritt würdigen, dass Politikerinnen seit Thatcher und Merkel auch mit Stimmen vorwärtskommen, die wenig Souveränitätsmerkmale aufweisen.

Frauen müssen wohl kompensieren

Franziska Giffey jedenfalls musste nicht wegen ihrer – offenbar einer Kehlkopfmuskelschwäche geschuldeten – Tonhöhe erst das Familienministerium und dann das Berliner Rathaus abgeben. Annalena Baerbock klingt nicht wie eine Nachtsendungsmoderatorin und geht bisher dennoch als erfolgreich durch.

Wobei ja das kontrafaktische Argument in der Politik immer schlecht zu führen ist. Wäre Giffey eine Oktave niedriger womöglich Bundeskanzlerin? Würde Baerbock mit dem Organ eines Sigmar Gabriel ihren russischen Kollegen Sergei Lawrow einknicken lassen? Wir wissen es nicht. Für wahrscheinlich halte ich, dass Frauen mit anspruchsvollen Tonlagen anderswo Punkte sammeln, also Kompensationsleistungen erbringen müssen.

Es ist unfair, wie so vieles. Vielleicht erledigt eine Künstliche Intelligenz das ja demnächst: Dann werden wir alle öffentlich-medial auf Nachrichtensprecherinnensound zurechtmoduliert. Bis dahin gilt: einfach weiterreden.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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