Die neue Frauenbewegung

■ Was junge Frauen heute von Tomatenwurf und Geschlechterkampf halten

Vor dreißig Jahren sorgte der Wurf einer Tomate für den Beginn der neuen Frauenbewegung in Deutschland. Danach kamen die provokativen Kampagnen, dann die Kinderläden, die Frauenzentren, Selbsterfahrungsgruppen und schließlich die Gleichstellungsbeauftragten und die Quote. Heute steckt der Feminismus in der Krise. Fragen Sie mal eine junge Frau nach ihrer Meinung zur Frauenbewegung. Die Antwort wird retrospektiv ausfallen.

So wie die von Rita Ebber, 32 Jahre, Filmausstatterin aus Hamburg: „Frauenbewegung? O je, die habe ich eigentlich immer als etwas Historisches gesehen, als etwas Gewesenes, mit dem ich mich nie identifiziert habe. Lila Latzhosen, Frauendemos und so – furchtbar. Ich dachte immer, für andere mag das ganz gut sein. Ich hatte das Gefühl, daß ich das alles nicht nötig habe. Benachteiligt habe ich mich auch nie gefühlt.“

Drastischer formuliert es Melanie Döring (23), BWL-Studentin aus Berlin: „Ich bin Postfeministin. Das ganze Gequatsche über Feminismus geht mir auf die Nerven. Ich nehme mir, was ich will – und damit Schluß!“ Als Identifikationsmodell scheint der Feminismus zu den Akten gelegt. Geschlechtsidentität als politisches Credo? „Püh...“

Dabei hatte alles so fulminant begonnen. Die späten sechziger Jahre waren die hohe Zeit der symbolischen Handgreiflichkeiten. Beate Klarsfeld ohrfeigte Kurt Georg Kiesinger, Eier flogen gegen das Berliner Amerika Haus, und in Frankfurt sorgte am 13. September 1968 eine wutentbrannt geschleuderte Tomate für Aufruhr in der linken Studentenschaft. Helke Sander, die spätere Filmemacherin, hatte auf dem 23. Delegiertenkongreß des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) die Arroganz von linken Chefideologen angeprangert, die zur Weltrevolution aufriefen und gleichzeitig Frauenfragen als „Nebenwidersprüche“ abtaten. Und richtig: Eine Diskussion der Vorwürfe wurde gar nicht erst als Tagesordnungspunkt zugelassen – man sei, hieß es ausweichend, nicht auf das Thema vorbereitet. Der Berliner Abgeordneten Sigrid Rüger platzte der Kragen, die Tomate flog und traf den Vorsitzenden des SDS, Hans-Jürgen Krahl. Der Saal tobte, die Veranstaltung war nicht mehr unter Kontrolle zu bringen und wurde aufgelöst.

Tempi passati. Mit einer Delegiertenversammlung von Revoluzzern über Kinderbetreuung und die Lage studentischer Mütter diskutieren zu wollen, mutet heute skurril an.

Damals jedoch sorgte der Tomatenwurf für ein Aufschrecken der SDS-Frauen aus kühnen, geschlechtsübergreifenden Revolutionsträumen. Mit Männern, die ihre Schmutzwäsche per Post zu Muttern nach Hause schickten, sich um Kinder und Haushalt nicht scherten, wäre selbst nach einer geglückten Revolution kein Staat zu machen. Von wegen „Nebenwiderspruch“.

„Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“ dekretierten nach dem Tomatenwurf die neugegründeten „Weiberräte“ mit einem Rest klassenkämpferischer Emphase. Das war in der ersten, der provokativen Phase der neuen Bewegung. Pragmatischer war da schon die Eröffnung der ersten Kinderläden, der ersten Frauenhäuser und feministischen Gesundheitszentren. Diese von der Frauenbewegung in den siebziger Jahren initiierten, ursprünglich zumeist selbstverwalteten Einrichtungen sind in den neunziger Jahren nicht nur für junge Frauen zu Selbstverständlichkeiten ohne politische Brisanz, zu institutionalisierten Dienstleistern geworden.

Im Zuge seiner Professionalisierung ist der Feminismus zum internen Spezialdiskurs geworden, der außerhalb der von ihm erkämpften Institutionen keine gesellschaftliche Strahlkraft mehr besitzt – stellen Forscher fest. Der einleuchtendste Grund für eine Auseinandersetzung mit feministischen Inhalten scheint heute am ehesten die Aussicht, innerhalb ebensolcher Institutionen Karriere zu machen.

Etwa im Bildungssektor: An vielen Hochschulen ist Frauen- und Geschlechterforschung zum festen, interdisziplinär geführten Forschungszweig geworden. Mit dem Effekt, daß nicht nur die Geschichte weiblicher Sozialisation und die Funktionsweise geschlechtsspezifischer Macht erforscht werden, sondern auch – bislang einmalig – ein Forschungsgebiet mit hohem Anteil an weiblichen Lehrkräften entstanden ist.

An den Schulen freilich hält sich das Interesse an geschlechtsspezifischen Themen sehr zurück. Christa Gotsch, Deutsch- und Französischlehrerin an einer Duisburger Gesamtschule: „Bei den Oberstufenschülern und –schülerinnen ist die Resonanz auf Themen wie sexistischer Sprachgebrauch deutlich abweisend. Die Schülerinnen fühlen sich weder sprachlich noch sonst irgendwie benachteiligt. Benachteiligungen werden auf rein individuelle Persönlichkeitsprobleme zurückgeführt. Sie empfänden es eher als Niederlage, wegen ihres Geschlechts bevorzugt zu werden. Die Gleichberechtigung erscheint ihnen als längst erreicht.“

Längst schätzen Frauen an Fraueneinrichtungen vor allem eines: ihren Gebrauchswert. „Aus Frauenbildungseinrichtungen verlautet, daß die Nutzerinnen zunehmend dazu beitragen, den Konsumcharakter der Bildungsmaßnahmen zu verschärfen, indem sie nur noch Interesse an kürzeren Bildungsveranstaltungen zeigen, die Lebenstechniken vermitteln“, beklagt die Berliner Frauenforscherin Irene Stoehr. Auch das noch: Die Unterschiede zu konventionellen Frauenberatungsstellen schwinden dahin.

Als Gründe für den Bedeutungsschwund des Feminismus benennt Irene Stoehr vorwiegend Vermittlungsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Generationen der Frauenbewegung. Den „Gründerinnen“ und den „Macherinnen“ falle es schwer, in ständiger Wiederholung das vermeintlich immer gleiche an die nachwachsenden Jahrgänge der „Konsumentinnen“ weiterzugeben und stets beim Punkt Null ansetzen zu müssen. Junge Frauen dagegen würden den Erfahrungs- und Erkenntnisvorsprung der Älteren häufig als erdrückend erleben. „Gerade Frauen“, sagt Stoehr, „nehmen sich nämlich beides übel: überlegenes Wissen zu präsentieren ebenso wie ,keine Ahnung' zu haben und das zu zeigen.“

Neben diesen immanenten, gruppenpsychologischen Gründen dürfte vor allem der Wandel der Lebensverhältnisse für ein geändertes Geschlechtsbewußtsein verantwortlich sein. Gab es in den sechziger Jahren für die Mehrzahl der jungen Frauen keine Alternative zur Rolle als Gattin, Hausfrau und Mutter, bestehen heute allein in der Gestaltung des partnerschaftlichen Alltags eine Vielzahl gesellschaftlich akzeptierter Möglichkeiten. Und das nicht nur in den Großstädten. Zusammenleben ohne Trauschein, Partnerschaft ohne gemeinsame Wohnung oder Alleinerziehung von Kindern sind heute auch in Kleinstädten oder in ländlichen Gebieten keine unüblichen Lebensformen mehr.

In einer 1996 veröffentlichten Studie des Deutschen Jugendinstituts München, die sich mit der Situation junger Frauen in Bayern und Sachsen beschäftigt, fällt vor allem die Offenheit der Lebensentwürfe auf: Fast alle der befragten Frauen gaben zu Protokoll, den Wunsch nach Kindern in ihre Lebensplanung einzubeziehen – vielleicht in fünf Jahren, vielleicht auch erst in zehn Jahren. Angesichts der verlängerten Phase der Unentschiedenheit spielen ideologische Abgrenzungen gegen bestimmte Lebensformen – „Ich heirate nie!“ – kaum noch eine Rolle. Älteren Feministinnen stehen bei all dieser Schwammigkeit die Haare zu Berge.

Auch in der Haltung zur Arbeit zeichnet sich ein Bewußtseinswandel ab. Irene Stoehr: „Wer in den Siebzigern für die Quotierung eintrat – ,Die Hälfte aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen!' –, bekämpfte unversöhnlich die Lohn-für-Arbeit-Kampagne. Heute wohnen diese früheren Widersprüche versöhnt in der jungen Feministinnenbrust.“ In einer aktuellen Broschüre der SPD zum Thema „Junge Frauen aktivieren und fördern“ heißt es: „Junge Frauen stellen heute Beruf und Beziehung gleichberechtigt nebeneinander. Sie wollen nicht das eine oder das andere, sondern beides, und zwar gleichzeitig.“

Die Entscheidung für einen solchen „doppelten Lebensentwurf“ dürfte jedoch nicht immer ganz freiwillig erfolgen; bei einem schrumpfenden Arbeitsmarkt ist es nur naheliegend, sich gegen permanente Demotivierung durch private Gegenentwürfe zu wappnen. Eine resignative Rückkehr an Heim und Herd ist mit dieser Haltung gleichwohl nicht verbunden. Ob sich allerdings mit dem Prinzip des doppelten Lebensentwurfs das große, unerfüllt gebliebene Ziel der Frauenbewegung – die adäquate Teilhabe an Führungspositionen – erreichen läßt, steht dahin. Denn die Traumkarriere läßt sich mit solch gebremster Kraft wohl ebensowenig realisieren, wie eine generelle Arbeitszeitreduzierung derzeit denkbar ist. Aber womöglich kommen ja auch zunehmend Männer auf den Geschmack an einem Parallel-Leben jenseits des Berufs?

Vorerst jedenfalls scheinen die Zeiten, in denen Studentinnen ihren Unmut mittels Tomaten ausdrückten, noch nicht ganz vorbei zu sein. Das Fanal von einst ist heute allerdings nur noch müdes Zitat. Als im Dezember letzten Jahres Studentinnen der Freien Universität Berlin auf einer Vollversammlung gegen die jämmerliche Zahl von Frauen auf Professorenstühlen protestieren wollten, besannen sie sich auf ihr wurfstarkes Vorbild Sigrid Damm-Rüger und kauften achtzehn Kisten Tomaten. Kisten! Die männlichen Teilnehmer der Vollversammlung brauchten trotzdem keine Angst vor einem Tomatenmassaker zu haben: Statt das Gemüse historisch korrekt gegen die Kritisierten zu klatschen, wurde es ihnen – politisch korrekt – in die Hände gedrückt. Ob die Männer mit dieser stummen Geste etwas anfangen konnten, ist allerdings nicht überliefert.

Reinhard Krause, 37 Jahre, arbeitet seit August als Autor für die taz. Hauptsächlich beschäftigt er sich mit Themen der Popkultur.

Aus Anlaß des Tomatenwurf-Jubiläums findet am 31. Oktober (12 bis 24 Uhr) im Henry- Ford-Bau an der Freien Universität Berlin der Kongreß Wie weit flog die Tomate? statt.

Programm und Anmeldung:

Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin;

Fon: (030) 28 53 42 11.