Die juristische Corona-Bilanz: Demokratie in der Pandemie
Die Bekämpfung der Pandemie folgte nicht nur den Inzidenzwerten. Immer wieder stellte die Politik gezielt die Weichen.
Unheil in der Ferne (ab Februar 2020)
In China, wo die Corona-Pandemie ihren Ursprung hatte, gibt es Ausgangssperren und ganze Städte werden dichtgemacht. Die erstaunte deutsche Öffentlichkeit erfährt: So etwas wäre auch bei uns möglich. Für die Bekämpfung von Pandemien gibt es das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das bis dahin kaum jemand kannte.
Erste Welle (ab März 2020)
Ausgehend vom Apres-Ski in Ischgl (Österreich) und vom Karneval in Heinsberg (NRW) breitet sich die erste Corona-Welle in Deutschland aus. Die Bundesländer beschließen, das öffentliche Leben herunterzufahren. Das IfSG erlaubt ihnen, die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ zu treffen. Die Länder sprechen sich in Bund-Länder-Runden ab, die von Kanzlerin Angela Merkel moderiert werden.
Der Bundestag stellt zwar das Vorliegen einer „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ fest, das hat zunächst aber nur Bedeutung für eher nebensächliche Kompetenzen der Bundesregierung. Die Verwaltungsgerichtshöfe der Länder erklären die Shutdown-Verordnungen der Landesregierungen für rechtmäßig. Die maximale 7-Tage-Inzidenz (Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche) beträgt Anfang April 44. Dann ist die exponentielle Ausbreitung gestoppt und die Werte fallen wieder.
Zweite Welle (ab Oktober 2020)
Nach einem ruhigen Sommer baut sich die zweite Welle auf und erreicht am Heiligabend mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 197 ihren Höhepunkt. Die Länder reagieren ab November mit neuen Shutdown-Verordnungen, die später noch verschärft werden. Ende November 2020 konkretisiert der Bundestag das IfSG und listet 17 Grundrechtseingriffe auf, die zur Bekämpfung von Corona zulässig sind: von der Maskenpflicht bis zur Schließung von Restaurants.
Zwar sprechen Maßnahmen-Kritiker von einem Ermächtigungsgesetz, es werden aber nur die bisherigen Maßnahmen der Länder auf eine solide gesetzliche Grundlage gestellt. Ab jetzt sind die Länder-Verordnungen zudem an die Feststellung einer „epidemischen Lage“ durch den Bundestag geknüpft. Diese besteht aber bereits seit März 2020.
Dritte Welle (ab Februar 2021)
Nach einer leichten Erholung kommt die dritte Welle, die von der ansteckenderen Alpha-Variante geprägt ist. Der Bundestag ändert im März das IfSG: Ab nun muss der Bundestag die „epidemische Lage“ alle drei Monate neu feststellen, was zunächst aber ein Routine-Akt ist. Die Länder können sich im März nicht mehr auf eine gemeinsame Linie einigen: Manche wollen lockern, andere verschärfen. Kanzlerin Merkel kündigt deshalb eine Bundesnotbremse an, die der Bundestag im April dann auch beschließt.
Nun gelten bundesgesetzlich strenge Maßnahmen inklusive nächtlicher Ausgangssperre, sobald die 7-Tage-Inzidenz in einem Landkreis drei Tage hintereinander über 100 liegt. Die bundesweite Inzidenz liegt Ende April bei maximal 174. Bis Mitte Juni sinken aber alle Landkreise wieder unter die Schwelle von 100. Die Maßnahmen haben ebenso gewirkt, wie das wärmere Wetter.
Vierte Welle (ab August 2021)
Die vierte Welle ist geprägt von der Delta-Variante. Zwar ist inzwischen die Mehrzahl der Bevölkerung geimpft, da aber die Delta-Variante noch ansteckender ist als die Alpha-Variante, genügt der Impfgrad nicht für eine Eindämmung. Trotz steigender Inzidenzwerte setzt die FDP in der neuen Ampel-Koalition durch, dass die Feststellung der „epidemischen Lage“ Ende November nicht verlängert wird. Im IfSG wird den Ländern zugleich nur noch ein reduzierter Werkzeugkasten zur Verfügung gestellt.
So sind Zugangsbeschränkungen für Ungeimpfte möglich, aber nicht mehr das Schließen ganzer Branchen. Wegen der hohen Inzidenzwerte wird im IfSG nun aber bundeseinheitlich 3G (Geimpft, genesen oder getestet) in Betrieben sowie in Bussen und Bahnen vorgeschrieben. Die Befugnisse der Länder und die bundeseinheitlichen Vorgaben werden bereits jetzt bis zum 20. März 2022 befristet.
Im November billigt das Bundesverfassungsgericht die Bundesnotbremse der dritten Welle und gibt dem Gesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum für die notwendigen Maßnahmen gegen die Pandemie. Die höchste Sieben-Tage-Inzidenz wird Ende November mit 482 erreicht. Im Dezember sinken die Werte wieder etwas.
Fünfte Welle (ab Januar 2022)
Nun bestimmt die Omikron-Variante das Geschehen. Diese ist zwar besonders ansteckend und erfasst auch viele Geimpfte, sie verläuft in der Regel aber milder (insbesondere für Geimpfte). Am 23. März erreicht die Sieben-Tage-Inzidenz den Wert von 1932. Die Krankenhäuser sind vor allem belastet, weil Teile des Personals infiziert ausfallen. Noch sind die staatlichen Maßnahmen der vierten Welle in Kraft. Aufgrund einer Übergangsregelung bleiben sie bis 2. April anwendbar.
Für die Zeit danach ermöglicht die Ampel-Koalition den Ländern nur noch einen Basis-Schutz, etwa eine Maskenpflicht in Pflegeheimen. Etwas weitergehende Maßnahmen, zum Beispiel eine Maskenpflicht im Einzelhandel, sind nur in Hotspots mit gefährdetem Gesundheitswesen möglich. In Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg erklären die Landesparlamente jeweils das ganze Bundesland zu Hotspots.
Was sagt das über die Demokratie?
Im ersten Jahr der Pandemie hat sich der Bundestag zurückgehalten und die Bestimmung der Maßnahmen ganz den Bundesländern überlassen. Mit Einführung der Bundesnotbremse im Frühjahr 2021 hat der Bundestag dann das Heft in die Hand genommen und besonders strenge Regeln beschlossen.
Seit die FDP an der Regierungskoalition beteiligt ist, sieht der Bundestag seine Aufgabe vor allem darin, die Befugnisse der Länder bei der Corona-Bekämpfung zu beschränken. Die deutsche Corona-Politik ist also nicht nur von Inzidenzwerten, Klinik-Belastungen und Impf-Fortschritten bestimmt, sondern in hohem Maße auch durch innenpolitische Entscheidungen. Man könnte auch sagen, die Demokratie war intakt. Ob man die jeweiligen Entscheidungen für richtig hält, ist eine andere Frage.
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