Die dunkle Geschichte von Plexiglas: Flecken auf der Kunststoffscheibe
Der Künstler Franz Wanner erforscht den Zusammenhang von Plexiglas und Zwangsarbeit. „Mind the Memory Gap“ heißt seine Ausstellung im Kindl.
Plexiglas ist ein tolles Material. In der ehemaligen Kindl Brauerei stapelt der Künstler Franz Wanner leere Schauvitrinen aus Plexiglas, wie sie weltweit in Ausstellungshäusern benutzt werden, sorgsam übereinander. Sie wirken harmlos, haben eine ästhetische Qualität als abstrakte Skulpturen. Doch ringsherum entfaltet Wanner eine Recherche zu Geschichte und Verwendung von Plexiglas, die in die NS-Zeit zurückreicht und die das Material in ganz neuem Licht erscheinen lässt.
Ausgangspunkt ist eine unauffällig wirkende Schutzbrille aus Plexiglas. Wanner stieß auf sie als Fundstück von Ausgrabungsarbeiten auf dem Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Berlin. Vermutet wird, dass sie ein Zwangsarbeiter in der Rüstungsproduktion im weitverzweigten Lagersystem des nationalsozialistischen Deutschlands trug. Ein Foto der Brille befindet sich am Eingang der Ausstellung.
Plexiglas selbst wurde 1933 von der Darmstädter Firma Röhm & Haas patentiert. Das leichte, aber stabile und zudem transparente Material wurde vor allem im Flugzeugbau eingesetzt. Auch dort war in den 1930er und 1940er Jahren Zwangsarbeit üblich.
Wanner suchte für seine Recherche Orte auf, in denen zwischen 1933 und 1945 Zwangsarbeiter*innen untergebracht waren, in denen sie starben, in denen sie auch die Rüstungsproduktion am Laufen halten mussten, die den Zweiten Weltkrieg Schuss um Schuss, Tag um Tag verlängerte. In kurzen Filmen zeigt er die Reste von Baracken, von Kellern und Bunkeranlagen.
Geschichte der Orte
Und er dokumentiert die Folgegeschichte dieser Orte. Ein Komplex, in dem Zwangsarbeiter*innen eingesetzt wurden, ist heute der Ludwig Bölkow Campus in Taufkirchen bei München. Das nach dem Entwickler des Jagdbombers Messerschmidt Me 262 benannte Gelände soll der Entwicklung von Innovationen für die Luft- und Raumfahrt dienen. Namhafte Unternehmen wie Airbus, ein Fraunhofer-Institut und auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt haben sich dort angesiedelt.
„Mind the Memory Gap“: Franz Wanner, Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst, bis 14. Juli
Ein Hinweis auf die dunkle Geschichte fehlt auf der sehr zukunftsoptimistischen Website des Campus aber. Eine Auseinandersetzung mit dem Namensgeber des Campus, einer wichtigen Figur der NS-Rüstungsbranche, ebenso.
Da sind manche Firmen inzwischen weiter. Mehrere Regalmeter Literatur zur Rolle von Zwangsarbeit in deutschen Unternehmen wurden in den letzten 20 Jahren produziert – teils tiefgehende Analysen, teils nur Beschwichtigungsversuche.
Wanner stellt im spekulativen Filmprojekt „Mind the Memory Gap“ den fiktiven – aber nicht undenkbaren – Versuch eines Unternehmens vor, den Aspekt Zwangsarbeit in einem Themenpark zur Firmengeschichte zu integrieren. Herausgestellt werden dabei die Zweifel der damaligen Unternehmensführung an der NS-Ideologie und einzelne Hilfsleistungen für Zwangsarbeiter*innen.
Zum Thema Plexiglas kommt Wanner auch wieder zurück. Er zeigt Plexiglasobjekte, die zu Materialforschungszwecken im Weltall angezündet wurden. Auch Schutzschilde der Polizei aus Plexiglas sind zu sehen.
Aussparungen in der Firmenhistorie
Wenn man sich, angeregt durch die Ausstellung, tiefer mit der Firma Röhm & Haas beschäftigt, die das Plexiglas ja erfand, stößt man darauf, dass der amerikanische Zweig der Firma inzwischen zum US-Konzern Dow Chemicals gehört, der deutsche Zweig hingegen zum Private-Equity-Riesen Advent International. Auch Röhm & Haas beutete einst Zwangsarbeiter aus. Das wird bei der offiziellen Firmengeschichte auf der Website des Unternehmens allerdings ausgespart.
Im Bericht zum Geschäftsjahr 1933, der dankenswerterweise im DFG-Viewer zu sehen ist, finden sich hingegen Beispiele für das auch sprachliche Unterwerfen unter die NS-Ideologie. Von der „nationalsozialistischen Erhebung“ wird geschrieben und betont, der deutsche Arbeiter wisse zwischen „raffendem und schaffendem Kapital“ zu unterscheiden. Was darüber wohl die Finanziers des Private Equity Funds denken mögen?
Wie normal Zwangsarbeit im damaligen Alltagsdeutschland war, demonstriert Wanner mit Aufnahmen eines Filmamateurs. Der wollte 1943 lediglich Frau und Kind beim Spaziergang durch Berlin-Lichtenberg zeigen, doch im Hintergrund huschen Zwangsarbeiterinnen durchs Bild.
Man hat viel gewusst und viel gesehen, auch damals. Und Plexiglas wird für alle, die diese Ausstellung besuchen, nie mehr nur das so hübsch transparente Material sein. Es enthält Einschlüsse, die von Tod, Leid und Ausbeutung erzählen. Mind the Gap, auch beim Erinnern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen