Die Wahrheit: Pelziger Gaumenkitzel mit Matratzengeschmack
Neue Welle in Spitzen- und Sterne-Restaurants: Die Hochküche entdeckt Locken, Scheitel und Strähnchen für sich und ihre Gäste.
Schon wieder macht sich ein ungewöhnlicher Trend in der kulinarischen Welt breit! Das alleine sollte niemanden verwundern. Heutzutage ist ja nichts mehr gewöhnlich: Süßes wird mit Salzigem kombiniert, Frühstückskram zum Nachtmahl serviert, Bitteres mit Vergorenem aufgepeppt; und über den indonesischen Gourmet-Kaffee aus Bohnen, die im Leib von Schleichkatzen zu Delikatessen heranreifen, hat sich bestimmt jeder im Freundeskreis schon mal belacht.
Aber jeder halt nach seiner Fasson! Denn auch das ist keineswegs ungewöhnlich: Die Menschen mäkeln und spötteln gern über Geschmacksangelegenheiten – zu gern vielleicht. Kritische Geister meinen, die Zeitgenossen suchten unentwegt nach dem sprichwörtlichen Haar in der Suppe. Denen wiederum kommt glücklicherweise ein kurioser Trend entgegen, welcher die Redewendung ins Wörtliche wendet – und etwas anders interpretiert.
Das Haar in der Suppe gilt nämlich plötzlich als ausgesprochene Köstlichkeit, ob gefärbt, gegelt oder natur! Menschen lecken sich die Finger danach, klauben all ihre Strähnen aus dem Kamm und laden ihre Bekanntschaft zum gemütlichen Abendbrot ein. Das Gewöll wird begeistert von Foodbloggern und Snackinfluencern verschlungen und als erlesenstes Schmackofatz bei Festmählern und Staatsbanketten gereicht.
Selbst in der Sterneküche ist es das Leckerli der Stunde: Haare in Suppen, aber ebenfalls zu Roastbeef oder zu knusprigem Zwiebelkuchenchurro mit Fenchelcreme – nach der angesagten Gastromode schwimmen gleich mehrere von ihnen auf den Tellern, am besten als richtige Knäuel!
„Herr Ober, da ist ein Haar in meiner Suppe!“ – „Na, für den Preis gibt’s keine ganze Perücke!“ Solche uralten Witze können jetzt plötzlich recycelt und gegen den Strich gebürstet werden. Mit einem ironischen (Fett-)Augenzwinkern kredenzt, gewinnen sie ungeahnte Aktualität, gleichzeitig jedoch auch kulinarische Spannkraft, die hohe Dauerwellen schlägt. Inzwischen manchmal ein bisschen zu hohe, wie nicht nur ein Restauranttester der FAZ vorige Woche befand, der nach der Verköstigung über eine „pelzige Zunge“ und ein „völlig zerstrubbeltes Dessert“ klagte.
Spektakuläres Misslingen
Die Rezeptsammelseite chefkoch.de ging beispielsweise vergangene Woche unter der Vielzahl der Anfragen in die Knie. Sie war eine bis drei Stunden, je nach gewählter Temperatur, nicht erreichbar, jedenfalls für Leute ohne Umluftherd. Viele Nudelaufläufe misslangen spektakulär, desgleichen Dutzende von Platten mit Osso Buco, Tausende Portionen Kartoffelbrei wurden ahnungslos ohne Butter und Muskatabrieb gestampft. Grund für den Totalausfall: Nachdem die Süddeutsche Zeitung in einem ihrer geliebten „Streiflichter“ den Hype milde aufs Korn genommen hatte, wollten Millionen von Neugierigen Genaueres über die angesengte, äh, angesagte Familie von Speisen erfahren.
Die verständliche Motivation: Herkömmliche Gerichte langweilen moderne Gutverdiener. Es soll täglich etwas Besonderes sein, am besten eine überraschende Geschmacksexplosion oder schmerzhafte Zungendetonation. Insbesondere die gesteigerte Nachfrage nach verrückt langwierigen Sous-vide-Zubereitungen zwang die Server schließlich zur Aufgabe. Denn hier wie woanders kennt die Begeisterung für gepflegt eingepflegtes Haar kein Maß und keinen Mittelscheitel mehr. Überall klappern die Scheren, wird lauthals getönt, gerupft, gekräuselt, gekaut und geschlungen.
Schattenseite des allgegenwärtigen Trends: Viele Gourmets kommen vom wuscheligen Stoff nicht mehr los, werden süchtig, ernähren sich oft tagelang von Eigenhaar. Zu erkennen sind sie an ausgerissenen Büscheln, an der fortschreitenden Glatze! Sie lungern vor Friseursalons herum, lassen sich das Aufgekehrte in Plastikbeuteln mitgeben. Anschließend hängt über den Szenevierteln der charakteristische Geruch: „Mmmmmh!“
Haare bestehen nämlich aus Horn, die fanatisierten Hipster bezeichnen sich deshalb als Hornies, weil sie „unentwegt horny“ seien – sprich: willig, heiß, allzeit bereit, wenn es daran geht, sich ein Fuder Haarwolle in den Gierschlund reinzukloppen.
Spezielle Vorlieben
Unterdessen entwickeln viele Feinschmecker spezielle Vorlieben: „Ich suche speziell nach roten Haaren. Sind oft dicker und irgendwie würziger“, mampft Dankwart von Theißen (26), Immobilenmogul vom Starnberger See, vor sich hin. „Im Englischen heißen rote Haare ja auch Ginger, also Ingwer – ich vermeine, die Schärfe zu schmecken, wenn ich mir gleich als Hauptgang meine ‚Capelli Rossi al Forno‘ schmecken lasse.“
Wie dem auch sei! Aber tatsächlich: Textur, Volumen und Weichheit des verarbeiteten Haars spielen für empfindsame Gaumen eine bedeutsame Rolle. Schulterlang, blondiert und leicht zu kämmen – vielen läuft bereits bei der Erwähnung das Wasser im Mund zusammen. Andererseits muss die Gastronomie auch stets Locken auf der Glatze drehen und Kohle mit dem Haar machen. Sie verwendet daher gern trockenes – damit der Getränkeumsatz steigt! Nicht so gern genommen dagegen, weil es oft im Hals stecken bleibt und zum Räuspern nötigt: kratziges Schamhaar. Bei aller Liebe!
Was den einen als neumodischer Quatsch gilt, treibt die anderen an ihre Rosshaarmatratzenfüllung, die sie mit einer Kaviarnocke oder einem Clotted-Cream-Tupfen anrichten. Die Bekannten sind beeindruckt! In Berlins Streetfoodszene eröffnete jetzt sogar ein Schuppen namens „Schuppen“. Was es dort gibt? Inhaber Jean Gabor (27) fährt sich durchs ungewaschene Haar und lacht: „Dreimal dürfen Sie raten!“
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