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Die WahrheitDie heilige Kirschtomatenbrücke

Auf einer Dubliner Brücke nahm ein Tiefkühlgemüse die Aufmerksamkeit der medialen Weltöffentlichkeit für kurze Zeit in Beschlag.

M anche Phänomene entstehen ohne Vorwarnung und verschwinden ebenso schnell wieder. Fast immer sind soziale Medien daran schuld.

In Dublin gibt es die Drumcondra Bridge, sie überquert den Royal Canal und die Eisenbahngleise. Da ich nur einen Steinwurf davon entfernt wohne, komme ich oft daran vorbei. Neulich hatte sich eine Menschenmenge auf der recht unscheinbaren Brücke versammelt, viele hatten ihre Handys gezückt und machten Fotos, denn das Brückengeländer war mit Tomaten übersät.

Was war passiert? Während des jüngsten Kälteeinbruchs hatte jemand ein paar Tomaten auf der Brücke liegen gelassen, die schnell gefroren waren. Zwei Tiktok-Nutzerinnen entdeckten das Obst und posteten Videos davon. Die frostigen Kirschtomaten glitzerten malerisch, und die Sache ging viral. Mehr als drei Millionen Menschen schauten sich die Videos an. Hunderte Einheimische und Touristen pilgerten zur Brücke, um Fotos für ihre Social-Media-Accounts zu machen oder um weitere „Opfergaben“ zu hinterlassen.

Neben Kirschtomaten wurden Ketchup, Tomatenpüree, gerahmte Fotos, Kerzen, Spaghetti und Weihwasser auf dem Geländer abgelegt. Auf Google Maps wurde die Brücke als „Schrein der heiligen Kirschtomaten von Drumcondra“ verzeichnet. Auf einschlägigen touristischen Plattformen wurde die Brücke mit fünf Sternen bewertet.

Die Tatsache, dass die Lebensmittel von Vögeln verschmäht und von Wind und Regen verschont wurden, trug zum Mythos bei. Meine Nachbarin erzählte, sie habe von den Tomaten in einer Social-Media-Gruppe namens Drumcondra Social erfahren: „Jemand schrieb, dass es ein magischer Ort sei, andere meinten, dass es ziemlich lächerlich sei.“ Sie sah sich die Sache an, kam aber zu keinem endgültigen Urteil.

Mzwake, ein Tourist aus Südafrika, sagte, er sei sofort hergekommen, nachdem er das Tiktok-Video gesehen habe: „Ich habe Fotos nach Hause geschickt, aber meine Freunde halten das für Fake News.“ Klaus aus Osnabrück, der in Dublin studiert, meinte begeistert: „Eine Mischung aus Surrealismus, Hyperlokalität und absurdem Witz! Das ist Dada pur!“

Eines Nachts schubsten Unbekannte das ganze Ensemble in den Kanal, doch am nächsten Tag lagen neue Gaben auf dem Geländer. Da wurde es der Stadtverwaltung zu bunt. Sie forderte die Menschen auf, keine Lebensmittel mehr zu verschwenden und kündigte an, die Brücke täglich zu säubern, bis der Hype vorbei sei. Das ist er inzwischen.

Das Verschwinden in der Versenkung gehört wohl zum Lebenszyklus eines Social-Media-Phänomens. Möglicherweise hat sich das Phänomen nur einen neuen Schauplatz gesucht: Jetzt macht ein Video auf Tiktok die Runde, auf dem Kirschtomaten zu sehen sind, die auf einem Geländer der Brooklyn Bridge in New York abgelegt wurden.

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Ralf Sotscheck
Korrespondent Irland/GB
Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net
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