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Die WahrheitAuf Kosten des eigenen Kopfs

Statt Redundanz ist übermäßige sprachliche Präzisierung das aktuell Neueste. Eine Sprachkritik mit Zitaten aus Zeitung, Radio, Fernsehen und Internet.

Kabarettpublikum, bevor es kreischt und johlt Foto: reuters

Bei der Menschwerdung des Affen spielte die Sprache eine große Rolle. Vielleicht spielt sie auch bei der Affenwerdung des Menschen: Wer einmal das aufgeregte Lärmen der Affen im Urwald gehört hat, wenn etwas passiert, erkennt es wieder, wenn US-amerikanische Fans bei politischen Großveranstaltungen kreischen oder das deutsche Fernsehpublikum bei Kabarettabenden johlt.

Sind dies Belege für intellektuelle und charakterliche Verwandtschaft, so gibt es eine sprachliche auch. An die 400 Wörter beherrschen begabte Menschenaffen; nicht viel mehr umfasst der Basic-Wortschatz Englisch, mit dem Fremde (also: Menschen) sich verständigen können, wenn sie wollen. Sogar noch weniger brauchen manche Leute innerhalb des eigenen Stammes, wo schon Lautformen wie „geil“, „super“, „top“ und „echt jetzt?“ oder auch „Standortsicherung“ beziehungsweise „Haushaltsloch“ als Grundlage für weitere Geräuschhervorbringungen genügen, je nach dem Biotop.

Wie immer und überall gibt es auch eine Gegenbewegung. Da werden Wörter nicht ausrangiert, vergessen und durch einfache Schalle oder schlichtes Gebrumm ersetzt, sondern werden gepäppelt, bekommen Hilfestellung. Wie im gesellschaftlichen Leben außerhalb der Sprache sind Beziehungen innerhalb von Vorteil, und schon eilen die Verwandten herbei, um schwächliche Mitglieder der Wortfamilie zu stützen, wie die folgenden Zitate belegen, die sämtlich aus Zeitung, Radio, Fernsehen, Romanen und dem Internet stammen.

So findet die kaum noch verständliche, vielmehr langweilige und alltägliche „Überraschung“ als „sensationelle Überraschung“ zu einer Form, in der sich Ausdruck und Inhalt sensationell ergänzen und bei den Lesern vielleicht ein überraschendes „Lächeln im Gesicht“ erzeugen statt anderswo im Körperbereich.

Noch schöner wäre ein Lächeln im „eigenen“ Gesicht. Diese endgültig jede Fehlortung ausschließende Präzisierung hat bisher niemand zu Papier gebracht, aber man nähert sich an. Schachexweltmeister und Regimegegner Garri „Kasparow verließ Russland, weil er um sein eigenes Leben fürchtete“ und Kritik an Putins Regime bereits einige Oppositionelle „den eigenen Kopf kostete“ statt den irgendwelcher anderer.

Eigener Ehemann

Ziviler geht es im einst erzkatholischen Irland zu, wo es keine Schande mehr über die Frau bringt, wenn „der Vater des Kindes nicht der eigene Ehemann“ ist. Womöglich ist auf der liberal gewordenen grünen Insel unehelicher Nachwuchs keine „seltene Ausnahme“ mehr, sondern eine häufige – und, das macht das Zitat ebenfalls klar, es muss nicht einmal das eigene, selbstgemachte Kind sein, sonst stünde das Adjektiv ja auch hier. Es darf auch zugelaufen sein, oder adoptiert!

Früher herrschte in Sachen Keuschheit versus Freizügigkeit nicht nur in Irland eine „engstirnige Borniertheit“, wären über alleinstehende Mütter „viele ratlos bestürzt“ gewesen. Heute dürfte Nachwuchs für sich eher „eine positive Aufbruchstimmung“ erzeugen anstelle einer negativen. Sicher haben Sie bemerkt, warum der Satz für sich ein wenig missraten ist?

Die Floskel ist so überflüssig wie der individualistisch und neoliberal überdrehte Geist, den sie anzeigt, und taucht daher überall auf, wo sie unnötig ist. Beweise? Bitte: „Die WerteUnion konnte noch kein Alleinstellungsmerkmal für sich gewinnen“ (aber vielleicht für andere?); jemand „hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich“ (statt vor sich!), und ratsam ist es, rechtzeitig „das Ruder für sich herumzureißen“ – statt für sich auf sich zu pfeifen!

Modell der Wirklichkeit

Gut und schön ist es, wenn man etwas nicht für sich tut, sondern für andere. Nur ist das manchmal nicht leicht, weil die Wirklichkeit nicht mitspielt – oder ist’s bloß die Medienrealität? „Wolfgang Freys Modell ist der Beweis: Es gab mal einen funktionierenden Hauptbahnhof in Stuttgart“, lautet die Unterschrift unter einem Foto – ein Beweis wie die Eisenbahn im Kinderzimmer für das Funktionieren der Deutschen Bahn!

Besser bebildert hat ein Lokalblatt seinen Bericht über „Wollmäuse und Schmutz in der Turnhalle“ und lobt: „Der Schulleiter will seine Schüler hier nicht mehr unterrichten lassen“ – nur, wen? Darüber schweigt sich das Medium aus.

Eventuell spielt der Sprachwandel eine Rolle, und das Verb „lassen“ wäre aktiv wie passiv nutzbar. Möglich ist das „definitiv vielleicht schon“, zumal es andere Wörter gibt, die ihr Gegenteil bedeuten können, belegbar zum Beispiel beim „Bürgergeld – das maximal das Existenzminimum sichert“ – und nicht etwa minimal, wie vielleicht Bezieher von Bürgergeld glauben! Apropos Existenz: Merkwürdigerweise ist just der „Mord“ doppelsinnig, einerseits aktiv gedacht, in der Tatform: „Nazimorde“; andererseits passiv verstanden, in der Leideform: „Judenmorde“ (der Holocaust), „Frauenmorde“ (der Femizid).

So viel erst mal – und später vielleicht „in mehr Kürze“!

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4 Kommentare

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  • ZB “Da kann man wirklich und ernsthaft überlegen, was man eigentlich sagt, wie man es sagt und was man nicht sagt, um Leute nicht für ein weiteres Gespräch zu verlieren (und zwar in beide Richtungen).“ (Magazin für Lösungen;)



    “Sicher haben Sie bemerkt, warum der Satz für sich ein wenig missraten ist?…



    Möglich ist das „definitiv vielleicht schon“, zumal es andere Wörter gibt, die ihr Gegenteil bedeuten können.“



    Eben. Edel🪶🪶🪶 halt. Gell 🧹🧹🧹

    • @Lowandorder:

      "Zur Halbzeit stand es 1:1" (sinngemäß - Eminanim als Fußballkommentatorin bei OsmanEngin),



      Es hätte auch umgekehrt sein können...

  • Sex sells,



    Wie heißt Sex an und für sich auf Deutsch?



    Wi...en - ich schreib's nicht aus,



    wegen Netti -



    vorausschauende Selbstzensur...

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Oder nehmen wir das schöne Wort 'Geldautomat'. Klingt ähnlich wie Spiel-, Wasch- oder Passfotoautomat: Automaten, die uns dazu dienen, dies und das zu machen. Wäre ja schön und irgendwie logisch, unter einem Geldautomat-en (viele oder die meisten von uns lassen ja inzwischen das '-en' in so einem Fall wie dem Dativ einfach weg) einen selbsttätigen Apparat zum -na ja zum Geldmachen zu verstehen. Vielleicht ist da doch der 'Bankautomat' etwas weniger missverständlich.



      Vielfach wird sprachliche Präzision auf dem Altar der Bequemlichkeit geopfert. Würden wir statt 'Nazimorde' präzise "von den Nazis begangene Morde" sagen und statt 'Frauenmorde' "an den Frauen begangene Morde" wäre das vielen oder den meisten von uns zu umständlich, will sagen zu unbequem. Genau dort liegt aber der Hase im Pfeffer (sagte man früher ziemlich klar und treffend, sozusagen präzise...).