Die Wahrheit: Wider den Röhrenden Promille-Hirsch
In einer Münsteraner Eckkneipe treibt ein irre lautes und absolut gefühlloses Wesen jede laue Sommernacht sein schreckliches Unwesen.
B lendendes Wetter und fußballerische Groß-ereignisse lassen den Röhrenden Hirschen neuerdings besonders häufig im Außengehege des Bestirnten Ecks auftauchen, der Eckkneipe direkt gegenüber meiner Wohnung. Da mein Zuhause ein paar Stockwerke höher liegt, dringt jeder Ton verstärkt und ungehindert durch meine offenstehenden Fenster. Was bei normal laut redenden Mitmenschen nervt, aber gerade noch so ertragen wird beziehungsweise werden muss, wird beim Röhrenden Hirschen zum Höllenfuror, der sadistisch ausgedachte Folterqualen weit übertrifft.
Der Röhrende Hirsch ist selbstredend kein Waldbewohner und erst recht kein Tier, sondern wurde von meinem Nachfolger als Präsident des Deutschen Wurst-Instituts aufgrund seines durchdringenden menschlichen Stimmorgans so betituliert. Mein Nachfolger wohnte wiederum diagonal gegenüber dem Bestirnten Eck und hat sich so bald als nur irgend möglich umzugsweise ans andere Ende der Stadt begeben, in die heutige Villa Wurst.
Das alles ließe sich als lästige Nichtigkeit des städtischen Gemeinwesens Münster abtun, durchdringende Stimmorgane gibt es schließlich noch und nöcher, und ich selbst muss gestehen, dass ich einmal in einem Nachtlokal von einem Neuankömmling mit den Worten begrüßt wurde: „Dich hört man aber auch schon von Weitem unten auf der Straße.“ Und das bei geschlossenen Fenstern!
Was aber den Röhrenden Hirschen zu einem wahrlich teuflischen Wesen macht, ist a) die völlig emotions- und modulationslose Wiedergabe von b) alltäglichen Nichtigkeiten wie seinem abgearbeiteten Einkaufszettel inklusive gezahlten Preisen, und das c) mittels tausendfach eingestreuten Ähs und d) über Stunden! Derweil die anderen Kneipgänger ihm an den Lippen hängen, als berichte er von den kühnsten Entdeckertouren auf der anderen Seite der Erdscheibe. Fragen oder Einwürfe werden vom Röhrenden Hirschen gnadenlos niederge-äht, als sei er der leibhaftig Selige auf der Kanzel zum Sonntagshochamt.
Eines Tages verirrten sich der Bier-Autor Jürgen R. und ich nach bierschwerer Bier-Lesung an die Theke des Bestirnten Ecks, um noch ein wenig über Lyrik im Allgemeinen und die Moderne Lyrik im Besonderen zu schwadronieren, als uns der Röhrende Hirsch, den wir bis dahin gar nicht wahrgenommen hatten – oh, hilfreiche Promille! – von der Seite anraunzte, was wir denn da für einen Scheiß labern würden.
Wir verließen auf der Stelle mit mehreren Flaschen Abendabschlussbiers das ungastliche Haus, öffneten in meiner Wohnung die Fenster weit und vergnügten uns bei höchster Lautstärke an diversen Vinyl-Schallplatten mit Vogelstimmen, da der werte Herr R. auch ein sattsam bekannter Hobbyornithologe ist. Vom Röhrenden Hirschen war darob rein gar nichts mehr zu hören.
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