Die Wahrheit: Mein Leben als Teilzeitberliner
Berlin ist, wie es ist: kaputt, dreckig, arm, absurd, lustig, trendig – nicht nur im Waschsalon, sondern im ganzen großen Umschlagplatz.
S eitdem ich nur noch Teilzeitberliner bin, erfahre ich immer öfter eine Art Kulturschock, wenn ich in die deutsche Hauptstadt zurückkehre. Denn ich wohne da, wo noch die letzten Baulücken gestopft werden, es gibt keine Ruinen mehr, keine Rückzugsräume im großen Umschlagplatz, im Ghetto, ja genau: in Neukölln.
Was zeigt sich? Alles. Das Kaputte, der Dreck, die Armut; aber auch das Absurde, Lustige, das Trendige, das Typische. Berlin eben.
Im Waschsalon, den ich neuerdings besuchen muss, weil meine Maschine den Geist aufgab, bestückt eine dünne junge Frau die Trommel und nimmt gleichzeitig an einer Videokonferenz teil, auf Englisch. Ein Mann hat ein großes Stoffeinhorn gewaschen. Gegenüber befehligt eine kleine Deutsche Anfang 30 ein Umzugskommando arabisch sprechender Männer. Sie sitzen neben Topfpflanzen auf der Pritsche und hören sich die Anweisungen an.
Hier wohnt der neue deutsche Mittelstand neben Hipstern aus Amerika und dem Rest der westlichen Welt. Die Expat-Hipster passen ganz gut hierhin. Sie tragen dieselben Altkleider wie die „irgendwie linken“ Deutschen, nur eben ironisch. Die Deutschen tragen sie „politisch“ oder weil sie noch nie einen Sinn für Stil hatten.
Ihre Kinder, die der Deutschen meine ich, die Hipster haben keine, sehen aus wie frisch der „Rappelkiste“ entsprungen. Also der ZDF-Kindersendung aus den Siebzigern. Echte Berliner Gören. Hier ergeben die Altkleider Sinn: Die Kinder haben einen lässigen Look. Struppig und wild, so als ob sie gleich einen Fußball in eine Fensterscheibe kicken.
Beim trendigen Japaner an der Ecke sind auf der Speisekarte sicherheitshalber keine Preise angegeben. Kartenzahlung ist erst ab 15 Euro möglich, inklusive Trinkgeld stimmt es dann. Draußen sitzt eine vermutlich lesbische Frau Mitte 40, ihr zweijähriger Junge schläft im Kinderwagen. Die Frau telefoniert ein paar Ämter ab, bietet Mädchensportkurse an. „Meine Pronomen sind sie und ihr“, sagt sie tatsächlich und, empört: „Stimmt es, dass diese Kurse nur von cis Männern angeboten werden?“
Ein Plakat macht Werbung für eine Tanzveranstaltung. Antigone legt am Abend im Eden auf. Im Karstadt am Hermannplatz fühlt man sich hingegen wie in einer Kleinstadt. Im Milliardenloch, in das auch die Regierung Geld geworfen hat, ist kaum etwas los. Die Preise muss man selbst scannen. Die Kassen wurden wegen des Umbaus zusammengelegt.
Im Supermarkt sieht man die Hipster wieder, wie sie sich an den Selbstbedienungskassen modern fühlen. Wieder wird ein Teil der Arbeit dem Kunden aufgelastet. Demnächst muss man alles selbst direkt aus dem Laster holen, und dank irgendeines technischen Tricks fühlt es sich wieder wie Fortschritt an.
So ist Berlin. Jetzt muss ich los, in die andere Teilzeitheimat.
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