Die Wahrheit: Das UKW-Massaker
Auch im altmodischen Küchenradio von NDR 1 werden Musikstücke mitunter schrecklich entstellt.
D as Bedürfnis, mich von anderen abzusetzen, hält sich bei mir in Grenzen. Mein Distinktionsunwille äußert sich unter anderem darin, dass ich in meiner Freizeit gerne Dinge tue, die viele andere auch gerne tun. Zum Beispiel analoges Fernsehen schauen. Oder UKW-Radio hören. Letzteres so, wie es sich geziemt: nebenbei. In der Küche, beim Spülmaschinenaus- und einräumen. Auf keinen Fall darf es ein Kultursender sein. Ich höre Mainstream-Radio in seiner altmodischsten und brutal-ehrlichsten Variante: NDR 1 Niedersachsen.
NDR 1 zielte immer schon auf die Alterskohorte 50 plus und war deswegen früher ein reiner Schlagersender. Weil aber die alten Alten wegsterben und man wohl markterforscht hat, dass die neuen Alten inzwischen eher auf Popmusik aus den 60ern, 70ern und 80ern stehen, läuft jetzt ein bunter Mix aus Hollies, America, Cliff Richard, Pink Floyd und Neue Deutsche Welle. Und hin und wieder ein Restschlager. Das meiste würde ich mir selbst nicht in eine Playlist packen, aber um so mehr freut es mich, wenn ich mal wieder „Jeans on“ von David Dundas höre. Mitunter ist es so, als begrüßte ich einen lang verschollenen Verwandten, den ich zuletzt als Kind 1977 auf Onkel Henners Beerdigung gesehen habe. Und wenn man grade nicht damit rechnet, läuft dann sogar mal „Song for Whoever“ von The Beautiful South.
Bevor ich zu NDR 1 konvertierte, hörte ich in der Küche Radio 21: AC/DC, Melissa Etheridge, Billy Idol, Bruce Springsteen, Tom Petty in Dauerschleife. Für fünfzehn Minuten am Tag auch wunderbar. Bis zu jenem Tag.
Ich schnitt grade Zwiebeln, da vernahm ich das allseits bekannte Intro zu „Sultans of Swing“. Ich freute mich. Es folgten: erste Strophe, zweite Strophe, dritte Strophe, vierte Strophe – dann wurde ich Ohrenzeuge eines Verbrechens. Irgendjemand hatte hier einen chirurgisch genauen Schnitt gesetzt. Vermutlich weil der Song mit fünf Minuten und siebenundvierzig Sekunden zu lange fürs Formatradio ist. Der Song sprang ernsthaft von „Savin’ it up for …“ – eigentlich käme dann „… Friday night“ – auf die musikalisch entsprechende Stelle am Ende der nächsten, der fünften Strophe. Die damit fast komplett gelöscht wurde. Mark Knopfler sang jetzt tatsächlich „Savin’ it up for … Rock ’n’ Roll“. Was im Zusammenhang des Songs null Sinn ergibt. Null. Das ist kurz vor Dada. Oder kurz vor Nena!
Dann kam das Gitarrensolo, das selbstverständlich nicht geschnitten wurde, weil Radio 21 ja ein „Rocksender“ ist. Rock gleich Gitarrensolo – das weiß jeder. Die folgende, eigentlich sechste Strophe wurde dann konsequenterweise mittendrin brutal ausgefadet. Kurzum: Ein veritables UKW-Massaker. Ich musste den Kochvorgang abbrechen und Drogen nehmen.
Am nächsten Tag wechselte ich den Sender. Auch auf die Gefahr hin, dass zwischendurch Chris Rea läuft. Oder … Jessesmaria … Ina Müller.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben