Die Wahrheit: Pulloverzwillinge in Flöckchenwolke
Kleidung für Hunde und Katzen ist hip und lukrativ. Noch hipper und lukrativer ist identische Kleidung für Haustiere und ihre Frauchen oder Herrchen.
C armen MacLeod zitterte vor Aufregung. Ihr war Unglaubliches widerfahren, berichtete sie. Beim Spaziergang war ihr ein kleiner weißer Hund begegnet, der genau den gleichen Pullover trug wie sie: hellblau mit weißen Flöckchenwolken.
MacLeod hatte das Kleidungsstück bei Shein gekauft, dem chinesischen Billig-Online-Anbieter, der auf Bewertungsseiten nicht sonderlich gut wegkommt. Vor zwei Jahren konnte man bei Shein sogar eine Kette mit Hakenkreuzen erwerben. Das wusste die Hündin namens Angel vermutlich nicht, denn ihr Pullover stammte ebenfalls von Shein.
Das Unternehmen hat eine riesige Kollektion an Kleidungsstücken für Hunde und Katzen. Das ist ein äußerst zukunftsträchtiger Markt: Die Hundebekleidungsindustrie wird Ende des Jahrzehnts einen Umsatz von 17 Milliarden US-Dollar machen, erwarten Experten, obwohl die Gesetze für das Wohlergehen von Tieren in vielen Ländern verschärft werden. Fällt modische Kleidung unter Tierwohl?
MacLeods kurzes Video von den identisch Gekleideten ist bereits mehr als 700.000 Mal angeklickt worden. Sie, die sich als „reisende Wandmalerin“ beschreibt, meinte über ihre Begegnung mit ihrem Pulloverzwilling: „Es gibt keine Worte, die beschreiben könnten, was gerade passiert ist – außer: Gott ist gut.“
Sie hat 27.000 Follower bei TikTok. Viele gratulierten ihr, eine Frau schrieb, MacLeod habe ihre Seelenverwandte gefunden, eine andere meinte, sie lebe jetzt ganz offiziell in einem Disney-Film. MacLeod erzählte, sie habe sich mit Angels Frauchen auf einen Kaffee verabredet.
Sie glaubt, Angel habe möglicherweise von einer solchen Begegnung geträumt. Das könnte sein. Deirdre Barrett, eine Evolutionspsychologin an der Harvard Medical School, hat in einer Untersuchung festgestellt, dass Hunde von Ereignissen träumen, bei denen auch Menschen eine Rolle spielen. Oder hat Angel von einer Shein-Badehose geträumt?
Mir ist neulich genau dasselbe wie MacLeod passiert. Ich bin bei Sonnenuntergang ohne Badehose in den Atlantik vor meiner Haustür gesprungen, als ein Labrador namens Covid – der Labrador ist den Besitzern während der Pandemie zugelaufen – vorbeikam, der ebenfalls keine Kleidung trug. Ich war fassungslos. Das konnte kein Zufall sein – erst MacLeod und der weiße Mischling, und nun ich und der braune Labrador. Ist Covid mein Seelenverwandter?
Leider konnte ich meine Geschichte nicht auf TikTok veröffentlichen, weil ich die Altersgrenze für eine Mitgliedschaft in dem Videoportal überschritten habe. Außerdem wäre es dem Hund wohl peinlich gewesen, vor einer Milliarde Nutzern weltweit nackt in einem Video zu erscheinen. Schade, sonst hätte ich vielleicht ein Rendezvous zwischen Angel und Covid arrangieren können. Oder zwischen MacLeod und mir. Natürlich bekleidet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe