Die Wahrheit: Mit Thoreau auf dem Plateau
Wandern gehen, während Krieg und Corona die Welt beherrschen? Auch eine Art von Flucht, auf der dem Elend nicht ganz zu entkommen ist …
W andern auf Gomera. Weiter weg vom Krieg in der Ukraine kann man eigentlich gar nicht sein, trotzdem kann dem auch hier niemand entkommen. Seit das „Netz“ stabil ist, ist auch auf Gomera die Welt allgegenwärtig. Krieg und Corona sind für Touristen und Residenten bedrohlich.
All dem kann man nur mit Wandern für ein paar kurze Stunden entfliehen. Am besten geeignet dafür ist der zwar kurze, aber alpinste Aufstieg auf die „Fortaleza“, bei der Wanderung von Chipude aus. Eine kleine Hochebene, nicht der höchste Berg Gomeras, trotzdem die Zugspitze der Kanareninsel.
Als es heikel wird, versuche ich mich abzulenken und sage: „Man entgeht dem Krieg besonders in den steilen Passagen.“ – „Ist das nicht etwas zynisch?“, fragt meine Freundin. „Wer auf seinen Weg achten muss, hat keinen Blick für die Welt“, sage ich.
Sie weiß um meine Ängste am Berg: „Du warst schon am Brenner auf schwarzen Routen unterwegs.“ – „Die hatten Stahlseile“, sage ich. Unser Wanderführer dort hatte übermütig formuliert: „Wo kein Stahlseil ist, braucht man auch keins.“ Hier sehne ich mich nach Stahlseilen. Meine Fingerspitzen fassen den Fels. Ich fühle mich wie ein Freeclimber, an zwei Fingern hängend, obwohl ich bei jedem Schritt festen Boden unter den Füßen habe.
Wir lassen drei Estinnen passieren. Die drei scheinen von der Streckenführung nicht im Geringsten beeindruckt zu sein. „Wenn du so nah an einem kriegführenden Land wohnst, ist das kein Wunder“, denke ich.
Ich versuche, erst gar nicht daran zu denken, dass ich wieder hinuntermuss. Dann kommen wir am Plateau an! Wir marschieren zum Gipfelkreuz. Dort ziehe ich ein kleines Reclam-Heft hervor, Henry David Thoreau, „Vom Wandern“, und zitiere: „Ich habe in meinem Leben nur ein, zwei Menschen kennengelernt, die sich auf die Kunst des Spaziergangs verstanden oder, anders ausgedrückt, eine Begabung zum Schlendern besaßen.“
Hätte Thoreau mich gekannt, wäre ich seine Nummer drei gewesen. Ich kann unendlich schlendern. Mein Schlendern geht streckenweise schon in regelrechtes Schlür’n über, die langsamste in Ostwestfalen bekannte Form des Schlenderns. Unsere Clogs damals zwangen uns dazu. Was für Amerikaner die Chucks, waren für uns die Clogs. Ostwestfälisch: Klotschen. „Holzsohlenschuhe“.
Wer Clogs trägt, ist kein Bergsteiger. Erst diese Frau brachte mich in Wanderschuhe und auf Berge. Nun schaue ich selig zur Insel La Palma und muss zugeben: Mit Clogs und Schlür’n und Schlendern wäre ich nie auf dieses Plateau gekommen!
„Abstieg?“, fragt sie dann. Mir graut davor, denn unten warten Putin und die Pandemie und davor die steilen Passagen. „Meine Seele würde gern auf den Abstieg verzichten und hier oben bleiben. Mein Körper ist skeptisch.“ Meine Freundin lacht: „Je tiefer du kommst, desto weniger Meter sind es bis zum Aufprall.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!